Diesen Beitrag habe ich vor vier Jahren geschrieben. Ich denke, er ist aktuell, wie jedes Jahr um diese Zeit.
Wenn es draußen kalt und dunkel ist, sehnen wir uns nach der Wärme und Geborgenheit eines Familiennestes. Wann, wenn nicht an Weihnachten möchten wir ein Teil einer glücklichen Familie sein? Viele getrennte Eltern rufen „Waffenruhe“ auf und vereinen sich für die Feiertage, um den Kindern wenigstens für ein Paar Tage die intakten Familienverhältnisse vorzuleben. Und wer am Heiligabend alleine ist, dann weiß er spätestens dann, dass er keine richtige Familie hat, oder?
Mein Platz in der Familie
Erwachsene Kinder fahren zu ihren Herkunftsfamilien hin, um sich einmal im Jahr als eine Gemeinschaft zu spüren: Das sind wir, wir sind eine Familie. Die Bilanz des Jahres wird gezogen, die Veränderungen realisiert, die Gewinner werden gefeiert und die Verlierer bemitleidet. So wird der eigene Platz und „Stellenwert“ in der Familie wieder bewusster. Und das birgt Konfliktpotenzial, denn in seltensten Fällen fühlen wir und geliebt und angenommen so, wie wir sind.
Die Enge und die Dichte dieser Tage lässt Themen auftauchen, denen wir in der restlichen Zeit schön aus dem Weg gehen konnten. Nun werden sie richtig präsent und machen dicke Luft. Doch die Hoffnung bleibt, dass sich die Gemüter durch das Kerzenlicht, Geschenke und gutes Essen besänftigen lassen. Man spielt das Spiel mit: Das Heiligabend-Spektakel wird wie auf der Theaterbühne aufgeführt. Die Erwartungen an Harmonie und Glück stapeln sich hoch wie ein Kartenhaus. Und wenn der Perfektionsdruck ins Unermessliche steigt, bricht das Kartenhaus in sich zusammen. Nun zeigt sich die Kehrseite der Familie – das Dunkele, das Unausgesprochene, das Verdrängte und das Hässliche. Spätestens am nächsten Tag fallen die Masken und die Kaskaden der Vorwürfe und Schuldzuweisungen überschlagen sich. Es wird so richtig hässlich.
Ein beliebtes Thema, das jetzt „aufgewärmt“ wird ist die Geschwisterrivalitäten, unfaire Elternpräferenzen oder die Machtverhältnisse in der Familie. Das geliebte und ungeliebte Kind streiten sich, Geschenke werden vergleichen, Liebe- und Treuebekenntnisse werden aufgewogen. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt. Versteckte Anerkennung oder Missbilligung werden aufgedeckt. Durch die Geschenke bekommt die Zuneigung einen monetären Wert. Aber nicht nur die Wertigkeit zählt, sondern das Kennen der Wünsche und Vorlieben.
Die Zeit der Umbrüche
Weihnachten ist die Zeit der Umbrüche und Veränderungen: Krankheitsausbrüche und Schübe finden pünktlich zu Weihnachten statt. Einige Paare trennen sich kurz davor um sich die unerträgliche Glücklichsein-Schauspielerei zu ersparen. Unternehmen entlassen ihre Mitarbeiter gerne am letzten Arbeitstag vor Weihnachten. So wissen diese nicht, wie es für sie im nächsten Jahr weiter geht und “feiern” mit der Ungewissheit.
Es ist symbolträchtig, dass das Familienfest schlechthin auf die dunkelste Zeit des Jahres fällt. So wird auch das Dunkle in jeder Familie belebt. Besonders, wenn es ansonsten stark unterdrückt wird. Doch wie dieses Fest nah der Wintersonnenwende liegt und die Tage von nun an wieder länger werden, so wenden wir uns auch bald wieder den hellen Seiten des Lebens, wenn wir dem Dunklen einmal Luft gemacht haben.
Am Heiligabend vormittags trifft man draußen oft auf Männer, die mit langen Gesichtern alleine spazieren gehen, um ihren Harmonie besessenen Ehefrauen zu entfliehen. Ich kann sie gut verstehen.
„I’m coming home for Christmas, if only in my dreams“ – spielt in meinem Kopf. Nur im Traum wird wohl meine Familie so sein, wie ich sie mir wünsche.