“Ich habe eine perfekte Mutter.” Warum die Illusion die Besserungschancen mindert.
„Ich habe eine tolle Mutter!“- höre ich nicht selten von Frauen, die mich bei Stimmungstief im Wochenbett aufsuchen. Sie schwärmen von ihrer Mutter und bezeichnen sie als beste Freundin, großes Vorbild oder Galionsfigur. Ich persönlich fasse diesen Lobgesang mit Latexhandschuhen und langer Pinzette an. Warum glaube ich ihnen kein Wort und warum haben diese Frauen aus meiner Erfahrung geringe Besserungschancen?
Ist es nicht ein Grund zu Freude, fragt der Leser, eine tolle Mutter und eine schöne Kindheit gehabt zu haben? Doch sicher, wenn es stimmt. Nur, wenn wir die Therapiesituation aus der Brille eines Detektiven betrachten, riechen wir sofort, dass etwas nicht zusammenpasst? Was passt nicht zusammen? Der Glaube an die perfekte Mutter passt nicht mit dem heutigen Zustand der jungen Mutter zusammen – ihrer Trauer, ihrer Überforderung bis hin zu Wochenbettdepression. Das Kind schreit, sie kann sich nicht um ihn kümmern, die Muttergefühle stellen sich nicht ein, sie will sich vom Kind lieber entfernen, seinen Nähe ist unerträglich, der Anblick seiner Bedürftigkeit tut weh, sein Verlangen nach Nähe und ihre Fähigkeit es zu bedienen klaffen extrem auseinander, das Stillen wird zur Tortur, das Kind schreit noch mehr, die Welt bricht zusammen und das Leben wird zum Alptraum.
Wenn wir uns im Wochenbett um den Nachwuchs nicht kümmern können, dann ist es ein sicheres Zeichen dafür, dass der Fluss der mütterlichen Energie unterbrochen ist. Wir können nur das geben, was wir selbst bekommen haben – so funktioniert nun mal der seelische Energiefluss. Wenn unsere Reserven an Liebe, Geduld, Zuwendung und Fürsorge leer sind, dann wurden sie nie gefüllt, soviel ist sicher. Doch solange wir es nicht realisieren, tappen wir im Dunklen.
Was ist der Ausweg aus diesem Alptraum? Der Ausweg ist eine Neubewertung der alten Beziehungsmuster und Vorbilder. Unsere Gefühle lügen nicht. Das Wochenbett ist der große Lügentest alter Glaubenssätze.
Doch diese Frauen sind für eine Neubewertung nicht bereit. Sie sind irritiert, gereizt und leisten großen Widerstand. Sie demonstrieren extreme Loyalität und nehmen ihre Mutter in Schutz. Sie sind nicht in der Lage, ihre Handlungen mit ein Wenig Abstand beurteilen zu können. Zu sagen, dass das positive Bild ihrer Mutter für sie wichtig ist, ist eine Untertreibung. Wie ein Wachhund greifen sie alles an, was dieses Bild noch so sanft zu hinterfragen droht.
Übertriebene Reaktionen sind in der Psychotherapie immer ein Zeichen für eine besondere persönliche Bedeutung, verborgene Konflikte, Schutzreaktion oder seelischen Brandherd. Was hängt also am positiven Bild der Mutter alles daran?
Als wir klein waren, war die Bindung zu unserer Mutter überlebenswichtig. Sie ist wie die psychologische Nabelschnur, die uns am Leben hält und ist stärker als Liebe oder Freundschaft. Neugeborene verstehen instinktiv, dass sie auf die Fürsorge eines Erwachsenen angewiesen sind. Sie begreifen, dass wenn es keinen Erwachsenen gibt, der sich um sie kümmert, haben sie keine Chancen in dieser Welt zu überleben. Sie kämpfen um diese Bindung mit aller Kraft. Wenn sie stundenlang schreien, dann ist es genau dieser Kampf um die Zuwendung der Mutter, dass sie endlich kommt und uns rettet. Und wenn die Mutter nicht kommt oder kommt nicht immer oder nur dann, wann sie Lust hat, dann ist die sichere Bindung (und daher das Leben) in Gefahr. Sie ist instabil und unbeständig. Man kann sich nicht auf sie verlassen. Man muss sich immer wieder vergewissern, dass die Bindung noch da ist. Daher „prüfen“ unsichere Kinder immer und immer wieder, ob die Mama jetzt noch kommt, um sich abermals zu vergewissern. Doch je öfter sie rufen, desto mehr ist die Mutter genervt. Eine infantile Mutter reagiert trotzig und geht auf die Forderungen des Kindes nicht ein. Es entsteht eine Abwärtsspirale: Das Kind verlangt immer öfter nach sicherer Bindung, die Mutter verweigert ihm diese und zwingt zur Selbständigkeit, das heißt sie lässt das Kind alleine. Diese Kinder behalten ein lebenslanges Gefühl, dass sie den unberechenbaren Kräften der Welt schutzlos ausgesetzt ist.
Wenn die sichere Bindung zur Mutter nicht möglich ist, dann konstruieren wir diese sichere Bindung nicht selten nur in unserer Vorstellung. Wir glauben fest daran, blenden die Realität aus, denn anders können wir nicht leben. Es entsteht eine Illusion als Überlebensstrategie.
Sind wir besser dran mit dieser Illusion? Ja vielleicht, solange wir keine eigenen Kinder bekommen. Doch „Die Lügen haben kurze Beine“ gilt auch hier. Die Illusion der guten Mutter reicht nur bis zum Zeitpunkt, an dem wir selbst Mütter werden. Dann bricht der gewohnte Lauf der Dinge zusammen.
Was ist die Lösung? Damit wir unsere Kind versorgen und lieben können, müssen wir leider auf die liebgewonnene Illusion verzichten, einen mentalen Re-set durchführen und sich eingestehen, dass wir doch weniger über sich wissen als bisher angenommen und von da an mit einem ehrlichen Blick eine neue Sichtweise auf sich selbst gewinnen.
Leidet dadurch nicht die Beziehung zur eigenen Mutter? Aus meiner Erfahrung wird sie dadurch nur besser – gelöster, ehrlicher, entspannter. Wir verstehen, dass unsere Mutter es nicht anders konnte, weil ihre Mutter es nicht anders konnte, etc. Aber wir können es anders und dann wird es unsere Tochter auch anders können. Was ist uns lieber: der Rockzipfel für das kleine Mädchen oder eine Beziehung auf der Augenhöre zwischen zwei erwachsenen Frauen? Sie entscheiden.
Inga Erchova ist Dipl.-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Autorin und dreifache Mutter. Erfahre mehr über sie und ihre Arbeitsweise…
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Psychotherapie am Telefon oder über Skype
Nicht immer müssen wir mit dem Therapeuten im gleichen Raum sein. Das Telefon bietet den Vorteil, dass man in vertrauter Umgebung eigener vier Wände bleibt und sich dadurch besser öffnen kann. Bei einer Sitzung über Skype vergisst man oft die räumliche Distanz und einige Zeitzonen Zeitunterschied.
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