Sind die Mütter immer schuld? Vom Schuldgefühl zum Verantwortungsbewusstsein.
Im Laufe der psychotherapeutischen Arbeit entsteht oft eine neue Sicht auf die eigene Vergangenheit, die unsere Vorstellung davon verändert, wer wir sind und woher wir kommen. Auch die Menschen in unserem Leben geraten ins neue Licht, vor allem die Mutter – die so wichtige Person im Leben, deren Einfluss man kaum überschätzen kann. Vielleicht hatten wir bisher ein Bild von der Mutter, das uns gefallen hat – eine liebe Person, ein wenig streng aber nicht unmenschlich, eine gute Freundin, ein Mensch mit Macken und Kanten, nicht perfekt aber nah, verwandt und warm. So ein Bild nährt uns von innen.
Eine gute Beziehung zur Mutter ist ungeheuer wichtig für die psychische Stabilität und das sichere Navigieren durch die Stürme des Lebens. Die Verbundenheit mit ihr ist die zentrale emotionale Stütze, vor allem wenn wir selbst Mütter werden und ihre Energie und Unterstützung brauchen, um sie weiter an unsere Kinder zu geben. Es ist ihre sanfte Berührung, die uns beruhigt, eine feste Umarmung, die neue Energie schenkt, ein Witz, der uns wieder aufheitert oder der Augenkontakt, der uns versichert, dass jemand kleinmaschig für uns sorgt. Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass sie mich nicht nur sieht, sondern spürt. So eine Verbindung ist telepathisch. Von ihrem Blick, der durch die Augen bis ans Herz geht, kann man nichts verbergen.
Und was ist wenn die gute Beziehung zur Mutter nicht möglich ist? Vielleicht war der Raum zwischen uns schon immer einer Wüste ähnlich, in der nichts wächst, nur sandiger Wind wütet und kein Tröpfchen Wasser zu finden ist. Statt Aufmunterung kommen nur Vorwürfe, statt Verständnis – besserwisserische Ratschläge, statt Mitgefühl – Desinteresse und statt Nähe – endlose Distanz. Wenn wir ohne mütterlicher Wärme aufwachsen mussten, haben wird ein lebenslanges Handicap, das uns viel Kraft abverlangt, um halbwegs ähnliche Chancen im Leben zu haben wie die Menschen mit einem besseren Start.
Oft ist aber die gute Beziehung zu Mutter nur eine Illusion – die fata morgana, ein Wunschbild, eine Idealvorstellung, die mehr in unserer Fantasie als in der Realität existiert. An diesem Bild wird krampfhaft geklammert, auch wenn alle Lebensumstände dagegen sprechen. Eine junge Mutter berichtet zum Beispiel, dass sie im Wochenbett nur bei ihrer Mutter sein kann, wenn sie eine lange Reise mit ihrem Säugling in ihre entfernte Heimatstadt auf sich nimmt. Für die fitte Großmutter selbst ist es „zu umständlich“, so weit zu reisen. Die junge Mutter erleidet einen Tag vor der Abreise Zusammenbruch aus Angst, die Großmutter mit ihrem Besuch und dem neugeborenen Kind zu sehr zu belasten. Auch dann glaubt sie weiterhin an die selbstlose Hilfsbereitschaft ihrer Mutter. Es ist verständlich, so sehr brauchen wir die gute Mutter an unserer Seite, auch wenn dies nur in der Fantasie möglich ist.
Wenn wir im Laufe der therapeutischen Arbeit neue Aspekte der Beziehung zur Mutter realisieren, entsteht ein Konflikt – wir lieben unsere Mutter, wir brauchen die liebevolle Beziehung zu ihr, doch andere neue Gefühle kommen jetzt hinzu. Es ist die Wut, die Traurigkeit oder das Unverständnis bezüglich ihres Verhaltens. Viele Frauen wollen die negativen Gefühle ihrer Mütter gegenüber nicht empfinden und währen sich dagegen. Sie möchten die noch so anfällige aber halbwegs positive Beziehung nicht zerstören. Um potentielle Konflikte machen sie einen großen Bogen, um nicht noch die letzten Krümel der mütterlichen Liebe aufs Spiel zu setzen. Frauen ringen mit sich: Wie sage ich das, was ich während der Therapie herausgefunden habe, meiner Mutter? Kann ich mit ihr darüber reden? Riskiere ich dadurch einen Streit? Wird sich unser Verhältnis von nun an schlechter?
Für die meisten von uns ist ein klärendes Gespräch mit der Mutter leider nicht möglich, heute genau so wie früher. Damals fanden wir auch kein offenes Ohr für unsere Probleme und Anliegen. Wir mussten unsere Sorgen sogar vor der Mutter verstecken, um sie nicht zu verärgern, sie nicht zu enttäuschen oder um nicht womöglich noch einen oben drauf zu bekommen für die abverlangte Mühe, sich um ein Problemkind kümmern zu müssen. Wir haben früh gelernt, alleine zurechtzukommen. Mehr noch, wir mussten sogar für unsere Eltern sorgen, weil sie „den Spieß umgedreht“ haben.
Die Generation unserer Eltern ist vom Krieg gezeichnet, auch wenn sie diesen nicht direkt miterlebt haben. Ihre Kindheit fiel auf die Zeit des Wiederaufbaus, wenn der Fokus nicht gerade auf dem Verarbeiten des erlebten lag. Nein, leiden wollte man nicht mehr. Man stürzte auf das Leben, froh darüber, überhaupt am Leben zu sein. Mehr war einfach nicht drin. Ihre Eltern waren eisern und gefühlslos, anders wäre es für sie wohl nicht möglich gewesen, die Grausamkeiten des Krieges zu ertragen. Sie verlangten von ihren Kindern vor allem eins – das Funktionieren. Das Kindische wurde ihnen verwehrt: statt spielen mussten sie mitanpacken und das Baden in mütterlicher Liebe stand nicht auf dem Tagesplan. Zu klagen und zu fordern hatte einfach keinen Zweck. Sie durften nie Kinder sein und sind deswegen für immer Kinder geblieben. Darum sind unsere Eltern infantil, unreif und egozentrisch. Erinnern wir uns, als wir noch klein waren, wurden sie aus nichtigem Grund beleidigt, sie schwiegen uns tagelang an und erzwangen damit, dass wir uns schuldig bekennen, reumütig zu ihnen gehen und sie um Entschuldigung bitten. Es ist eine kindische Art, die Aufmerksamkeit der Mutter zu erlangen. Aus ihrem Munde wiederum haben wir das Wort “Entschuldigung” noch nie gehört. Diese Generation entschuldigt sich nicht. Sie ist uneinsichtig und trotzig.
Angesichts der unreifen Eltern mussten wir früh „erwachsen“ werden und uns um sie kümmern. Es entstand die verkehrte Welt, in der die Rollen vertauschen wurden. So haben wir versucht, ihnen ihre Eltern zu ersetzen, was natürlich unmöglich ist. Daher ist das Reifen für uns ebenfalls ein Problem. Die Kindheit kann man nicht überspringen. In der Entwicklung folgt ein Schritt nach dem anderen. Abkürzungen gibt es nicht, nur das Steckenbleiben in der nicht durchlebten Phase. Nun altern wir schon, ohne jeweils die Reife erreicht zu haben.
Unsere Eltern konnten nicht für uns sorgen, da sie selbst verletzt worden sind. Das instinktive Sich-Kümmern und das Lieben als natürliche Art der Bindung zum Nachwuchs ist in ihnen gebrochen, wie in Tieren die in Gefangenschaft leben. Können sie für unsere Verletzungen folglich nichts dafür? Ist es deswegen sinnlos, sie dafür zu beschuldigen wie einen Gehörlosen für das schlechte Singen zu tadeln oder einen Übergewichtigen für seine miesen Sportleistungen? Kann man ihr Versagen verstehen? Sehr wohl. Kann man es ihnen verzeihen? Jeder kann diese Fragen für sich beantworten.
Auch wenn wir unseren Eltern gerne einen Vorwurf machen wollen, die Wahrheit ist, Schuldzuweisungen machen alles nur noch schlimmer. Der Druck erzeugt immer den Gegendruck. Jeder Angeschuldigte wird sich rechtfertigen und sich mit Händen und Füßen verteidigen wollen. Die Reaktion auf Vorwürfe ist immer die Defensive, mehr Verneinung, Flucht, Barrikaden und Krieg. Es entstehen zwei Fronten auf beiden Seiten der Barrikaden – hier sind die Guten und da sind die Bösen. Nichts führt weiter weg von einer Versöhnung und Frieden.
Wenn Vorwürfe zu nichts führen, warum empfinden wir dann diese seltsame Lust am Beschuldigen? Es geht sogar soweit, dass wir statt nach Problemlösung lieber nach Schuldigen suchen, in allen Bereichen des Lebens. Ich glaube dahinter steht der alte Wunsch, gehört und beachtet zu werden sowie der unbewusste Drang, einen Platz zu finden, in dem die aufgestaute Wut abgeladen werden kann. Genau darum geht es, die Wut zu spüren und sie zu zeigen. Es fällt leichter, wenn man dafür einen Empfänger hat.
Die Frage nach der Schuld zieht mit sich die Frage nach der Strafe. Sie Strafe hat aber mit der Einsicht wenig zu tun. Die Strafe wird von außen verhängt und bewirkt wenig Bewegung im Inneren der Seele. Viel mehr lähmt sie diese mit Resignation, Stigmatisierung oder der Flucht ins Verleugnen.
Wenn es so was wie ein konstruktives Schuldgefühl gibt, dann kommt es von innen und kann nur zu einer Veränderung führen, wenn der Mensch über genügend Kraft verfügt, sich vom Schuldgefühl nicht paralysieren zu lassen, sondern es als Leidensdruck, als Anstoß und motivierende Kraft zur Veränderung nutzt. Ein Schuldgefühl kann nur nützlich sein, wenn es in Verantwortung übergeht.
Lassen uns anstelle von Schuld lieber von Verantwortung sprechen. Es ist ein Gefühlt, das uns Bewegungsraum gibt. Ja, wir Mütter sind verantwortlich für das Wohlsein unserer Kinder und können viel für sie tun, auch wenn uns wenig finanzielle oder seelische Mittel zur Verfügung stehen, wenn wir selbst aus belasteten familiären Verhältnissen kommen und wenn wir heute durch schwierige Lebensphasen gehen. Das größte Geschenk für unsere Kinder sind Eltern, die sich hinterfragen, die sich selbst zu verstehen lernen und ihren Schatten nicht stellvertretend an ihren Kindern bearbeiten. Dafür tragen wir Verantwortung, ganz egal wie unsere Kindheit verlaufen ist. Und wir tragen Verantwortung für unser eigenes Leben, denn heute haben wir Ressourcen und den Willen eines erwachsenen Menschen, um einen neuen Umgang mit der Vergangenheit zu suchen.
Wir sind aus den Eltern gemacht. Sie waren früher unser Universum, unsere Umgebung, der Anschluss an die Welt und an das Leben. Auf sie einzuhämmern bedeutet, gegen etwas in uns selbst zu kämpfen und Teile von uns abzuerkennen. Die Verbindung zu ihnen ist wie eine psychologische Nabelschnur an das Leben, ohne die wir nicht sein können, oder nur mit einer großen Wunde im Herzen.
Die Erkenntnis, dass bei der eigenen Mutter nichts zu holen ist, mag bitter sein, denn sie lässt uns endgültig alleine, aber sie bringt Gewissheit anstelle von leeren Hoffnungen, die unsere Energie und die wertvolle Zeit verkonsumieren. Es ist nicht zu ändern, dass unsere Eltern uneinsichtig sind, aber wir können es sein, weil wir die Arbeit des Reifens auf uns nehmen und die Verantwortung für unser Leben und das Leben unserer Kinder übernehmen. Und einsichtige Eltern tun etwas Wichtiges – sie entschuldigen sich bei ihren Kindern. Ich glaube jeder von uns findet leicht einen Grund, sich bei seinen Kindern zu entschuldigen, und das können wir gleich heute tun.
Inga Erchova
Aus meinem Buch zum Thema Mutterschaft, das im Sommer 2017 auf den Markt kommt.
Inga Erchova ist Dipl.-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Autorin und dreifache Mutter. Erfahre mehr über sie und ihre Arbeitsweise…
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Nicht immer müssen wir mit dem Therapeuten im gleichen Raum sein. Das Telefon bietet den Vorteil, dass man in vertrauter Umgebung eigener vier Wände bleibt und sich dadurch besser öffnen kann. Bei einer Sitzung über Skype vergisst man oft die räumliche Distanz und einige Zeitzonen Zeitunterschied.
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