Das neue Feindbild „Die Irren mit dem Aluhut“ und was wir von der kindlichen Ohnmacht darauf projizieren.
Wir erleben gerade eine Spaltung der Gesellschaft. Es bilden sich zwei Fronten: Die einen protestieren auf der Straße gegen die Einschränkungen, die anderen sind über die Proteste empört. Hervorgerufen wurde diese Spaltung durch das Einführen von Mundschutzpflicht. Scheinbar harmlose Maßnahme zeigte unerwartet eine starke symbolische Wirkungskraft.
Durch die Maske wird unser halbes Gesicht verdeckt. Aus Vermummungsverbot ist nun ein Vermummungsgebot geworden. Das Gesicht zeigen, das heißt, sich bekennen und Stellung beziehen, wird dadurch unmöglich. Der Mund – unser Kommunikationsorgan wird verdeckt. Wir empfinden es als Begrenzung der Aussprache und Meinungsfreiheit. Auch das Atmen wird erschwert, wir können nicht durchatmen und ersticken innerlich. Das alles führte dazu, dass eine Aufstandsbewegung entstanden ist und die Mundschutzmaske zu „Maulkorb“ deklariert hat. Viele wehren sich dagegen und ziehen den Ärger der „Gehorsamen“ auf sich. Es schwingt aber mehr als nur Unverständnis mit, der Ärger geht fast schon in Verachtung über? “Die Irren mit dem Aluhut” werden zu neuem Feinbild, belächelt und angefeindet. Warum eigentlich?
Für die meisten von uns ist fremdbestimmt zu sein der Normalzustand, seit dem Babyalter: Wir wurden nicht an die Brust genommen, wann wir es gebraucht hatten, sondern wann die Uhr es angeordnet hat; unsere Mama hat uns nicht auf den Arm genommen, wenn wir nach ihr gerufen haben, sondern uns alleine im leeren Zimmer weinen gelassen. So sind wir mit dem Gefühl groß geworden, unsere innere Stimme ist wirkungslos, unser Leiden findet kein Gehör, wir sind allein in dieser Welt und müssen uns fügen, dieser äußeren Kraft, die mächtiger ist als wir, die über uns bestimmt, auf Leben und Tod.
Nun sind wir groß geworden und sind nicht mehr der Mutter ausgeliefert, dennoch tragen wir die gelernte Wehrlosigkeit in uns, dieses alte Gefühl, dass wir nicht zählen, dass wir aushalten und uns fügen müssen. Heute gibt uns der Intellekt genügen „gute Gründe“, warum das so richtig sei. Es beruhigt uns ein wenig zu glauben, dass es doch bestimmt für etwas gut ist: für die Gesellschaft, für die Gesundheit, für den Kampf gegen die gefährliche Krankheit. Unsere innere Stimme ist jedoch nicht ganz in uns erloschen, sie ist wie eine winzige Flamme noch am Leben, tief in uns begraben. Aber sie darf nicht groß werden, nicht entflammen, sonst kommt die große Mutter und bestraft uns. Wir halten lieber aus, andere tun es doch auch. Manche haben es noch viel schlimmer als wir, also halten wir durch.
Aber wenn Menschen kommen, die ihre innere Stimme groß nach außen kehren und für ihre Selbstbestimmung kämpfen, dann wirkt es auf uns wie ein Verrat. Wie können sie nur? Was fällt ihnen ein? Wir müssen doch zusammenhalten, alle gleich verzichten, gleich leiden, gleich zurückstecken, an einem Strang ziehen. Aber wohin? Warum? Wozu? Das fragen wir uns nicht, denn das würde unsere kleine Flamme groß aufflammen lassen.
Wir dürfen nicht zweifeln. Es wird getan, was von oben angeordnet wird, wie die Mama damals. In unserer infantilen Hilflosigkeit hatten wir damals keine Chance, unsere Wünsche erfüllt zu bekommen. Nein, das galt als Verwöhnen und wurde verpönt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Selbstbestimmung für uns heute als purer Luxus erscheint, ein unerlaubtes Privileg. Hält man sich denn für etwas Besseres? Es bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als Steine nach ihnen zu werden, sie zu beschimpfen oder zu belächeln.
Es gibt ein verbreitetes Phänomen während der Psychotherapie: Wenn ein Klient sich ändert und seine alten destruktiven Verhaltensmuster ablegt, leistet seine Umgebung – die Familie und die Angehörigen – gewaltigen Widerstand, als würden sie den Klienten in seiner alten Lebensweise mit aller Kraft zurückhalten wollen. Sie erpressen und beschimpfen, drohen mit Liebesentzug oder mit Verbannung aus der Familie, sie entziehen ihm finanzielle Unterstützung bis zum Streichen aus dem Kreis der Erben. Warum ist es so? Müssten sie sich nicht für ihren genesenden Familienmitglied freuen?
Es liegt daran, dass in einer Familie, in der toxische Beziehungen herrschen, Mitglieder nicht frei leben, sondern co-abhängig. Sie leisten bestimmte „Dienste“ für einander und sind in einem Familiendrama mit festem Drehbuch und Rollenaufteilung gebunden, wie z. B. der Bösewicht und das Opfer, der Tatkräftige oder der Schwache. Das Opfer kann nur seine Opferrolle spielen, wenn es einen Bösewicht gibt. Es braucht ihn, sonst kann es nicht Opfer sein.
Wenn sich ein Familienmitglied diese toxischen Beziehungsmuster bewusst wird, sie nicht länger erledigen will, und sich weigert nach dem gewohnten Drehbuch zu leben, werden ihm Steine in den Weg gelegt. Wenn ein „Bösewicht“ nicht länger „böse“ sein möchte, entzieht er dem Opfer seine Lebensgrundlage und die Vorteile, die diese für das Opferdasein mit sich bringen, wie z. B. sich vor jeglicher Verantwortung zurückzuziehen.
Wenn jemand seinen eigenen Weg gehen will, wird er angefeindet, ihm wird Egoismus vorgeworfen. Er lässt sich nicht länger benutzen. Er gibt kein Futter mehr für die Rollen der anderen und stellt sie so vor die Aufgabe, ihre eigenen Rollen ebenfalls zu überdenken. Er macht ihnen bewusst, dass sie abhängig sind. Wenn er aber ein Gespräch und Aussprache sucht und seinen Angehörigen über die toxischen Beziehungsmuster berichtet und sie bittet, diese zu verlassen, findet er kein Gehör. Er wird nicht ernst genommen, wie schon immer seit der Kindheit. Alles geschah doch nur zu seinem Besten aus Liebe, das müsse er einsehen. Alles ist nur Hirngespinst. Dann wird er zu dem „Irren mit dem Aluhut“ der Familie ernannt.
Es ist leicht, einen wehrlosen und gehorsamen Familienmitglied oder Bürger zu erschaffen. Man muss ihn nur nach der Geburt vom Körper seiner Mutter trennen. Es fügt dem Baby so ein unerträgliches Leiden zu und verletzt es so tief, dass es nur mit dem Einfrieren der Gefühle möglich wird, es zu überstehen. So wachsen wir heran, nichts fühlend und mit verstummter inneren Stimme. Wir orientieren uns nach außen – nach Vorschriften und Vorgaben, Anordnungen und Regeln, mit dem Glauben, wir können eh nichts dagegen ausrichten. Wer diese aber infrage stellt, ist ein Verräter. Zur Mehrheit zu gehören gibt uns die ersehnte Sicherheit.
Wenn ich nach einem Ausweg suche, dann sehe ich mir meine Kinder an und weiß, dass es ihnen so nicht passieren wird. Sie leben durch und durch im Einklang mit ihrer inneren Stimme, auch wenn sie bestimmte Regeln befolgen müssen. Das ist kein Widerspruch. Es herrscht keine Anarchie, sondern das bewusste Zusammenleben, bei dem das Glück des einen nicht auf dem Unglück des anderen basiert. Jeder hat die Möglichkeit, sich zu entfalten und gleichzeitig ein Teil der Gemeinschaft zu sein. Wenn ihre Wünsche gehört werden, lernen sie, Wünsche Anderer ebenfalls zu hören und zu respektieren.
Wenn ich mit Frauen arbeite, die ihre Kinder anders großziehen wollen, als wie sie selbst wurden, dann weiß ich, dass ich damit nicht alleine bin. Vielleicht dauert es noch, bis die Kinder von heute groß werden, spätestens dann wird die Welt eine andere sein. Bis dahin bleibt uns nur übrig, auf unsere innere Stimme zu hören, ohne Angst und Zweifel, denn diese innere Stimme ist das Einzige, was uns wahrhaftig immun macht, gegen alle Parolen, von welcher Seite auch immer sie kommen mögen.
Während der Pandemie gebären.
Eine ganz besondere Herausforderung, sein Kind in Zeiten der Pandemie zur Welt zu bringen. Im Krankenhaus mussten sich Gebärende schon immer den Arztansagen fügen. Jetzt umso mehr, sogar eine Maske während der Geburt tragen. Das ist unmenschlich und unsinnig. Ich würde mich heute mehr denn je für eine Hausgeburt entscheiden. Wir müssen uns von niemanden sagen lassen, wo und wie wir unsere Kinder gebären, sondern gerade jetzt zu unserer urweiblichen Kraft zurückfinden.
Hier ist eine Fotostrecke von einer Geburtsstation in Italien. Bilder wirken deprimierend, manchmal verzweifelt. Doch auch da ist eine Geburt immer ein bewegendes und emotionales Ereignis.
Rezension Netflix-Serie „Freud“
(Regisseur Marvin Kren. Autorin der Rezension Inga Erchova)
Dieser Netflix-Vorschau hat mich sofort gefesselt: Freud! – eine Ikone, der Vater der Psychoanalyse, für mich als Psychotherapeutin mein geistiger Vater. Kein Wissenschaftler hat für so viel Aufsehen gesorgt, Spaltung der Geister produziert, wurde bewundert und belächelt, gefeiert und geschmäht, kontrovers diskutiert oder durch den Dreck gezogen wie er. Seine Entdeckung des Unbewussten schätze ich nicht keiner ein als die Entdeckung, dass die Erde rund ist: Etwas zu entdecken, was man nicht direkt sehen oder ertasten kann, was man nur in seiner Vorstellungskraft erahnen kann, so schafft man einen Sprung im Bewusstsein.
Meine Erwartung an die Serie war daher, dass sie die Denkrevolution Freuds eindrucksvoll in Szene setzt und die Figur des Pioniers wie ein Ölgemälde ausmalt. Aber was war Freuds Verdienst eigentlich genau?
Revolution, die Keiner wahrhaben will.
Manche Entdeckungen feiert die Menschheit und nutzt sofort für sich, und durch andere fühlt sie sich aus der Bahn geworfen und bedroht. Nicht verwunderlich, dass die Letzten auf mächtigen Widerstand stoßen.
Dass die Erde nicht der Nabel der Welt war, sondern nur eins von vielen Satelliten der Sonne, war eine Kränkung für die Menschheit, die Kränkung für das Ego und ein Riss durch das Selbstbildnis als die Krönung der Schöpfung.
Die Entdeckung des Unbewussten durch Freud war eine ähnliche Kränkung für die Menschheit und erneuter Angriff auf ihren Anspruch, der Nabel der Welt zu sein. Auch hier mussten wir uns die Schwäche eingestehen, dass das Gehirn nicht alles erklärt, dass wir nicht alles über uns wissen und dass wir nicht einmal die Herren im eigenen Zuhause sind. Auch das schmerzt und stößt auf massiven Widerstand. Doch er hielt Freud nicht auf.
Die Aufarbeitung in der Serie.
Zum Auftakt der Serie versetzt Freud mit seiner rebellischen Darstellung des Unbewussten die Wissenschaftswelt in Aufruhr: „Ich bin ein Haus, darin ist dunkel. Mein Bewusstsein ist eine schwache Kerze, die im Wind flackert, mal dahin, mal dorthin. Der Rest bleibt im Dunklen. Aber sie sind da: die Treppen, die Gänge, dunkle Zimmer, Geister, die darin wohnen. All das ist immer da und es lebt, es wirkt, es macht uns Angst.“
Damals suchte man nach Ursachen für Leiden jeglicher Art im Körper und Organen, und behandelte nur diese. Jenseits des Fassbaren zu schauen, war sprichwörtlich unfassbar. „So einen Schwachsinn will ich mir nicht länger anhören“, – klang aus den Reihen, – „Meint er das ernst?“ Vielleicht gerade diese Verleugnung des Seelischen jenseits der Materie hat zu der Zeit den fruchtbaren Boden bereitet für den Okkultismus und die dunkle Magie, verkörpert durch das ungarische Grafenpaar Sapare und ihre Ziehtochter Fleur. Nur Freud konnte einen Zugang zu ihnen finden und sie ihrer dunklen Macht entziehen. Irgendwo sprachen sie die gleiche Sprache.
Die Serie Freud ist keine Biografie und auch keine aufklärende Doku. Die Serie ist ein Geflecht aus Menschenschicksalen, Lebenswegen, die sich kreuzen und wieder auseinandergehen, von Menschen, die sich im dunklen Haus ihres Bewusstseins verirren und einen Ausweg suchen. Freud ist oft nur als stiller Beobachter im Hintergrund dabei, dessen Forschungsdrang ihn vor keiner gefährlichen Situation zurückschrecken lässt.
Das Haus als Metapher des Bewusstseins zieht wie ein roter Faden durch die Serie durch. Wir sehen viele Häuser, spärlich beleuchtet, mit Gängen und Treppen, von Geistern bewohnte Räume, wo man seinen eigenen Abgründen begegnet und gegen sich selbst kämpft. Dazu bietet das alte Wien die perfekte Kulisse.
Der Fokus der Serie liegt dennoch eindeutig auf der Unterhaltung und es werden dazu alle Register der Spannungsaufbau gezogen – Zweikämpfe, spritzendes Blut, Leichen und Labyrinthe. Die volle Klaviatur der Gruseleffekte wird angespielt inklusive des Ohrwurms einer Klaviermelodie, mit der im Kopf ich am nächsten Morgen aufwachte. (Diese Ohrwurm-Melodie hörte ich übrigens eines Abends plötzlich durch die Wand von nebenan, als meine Nachbarn die Serie ebenfalls geschaut hatten. Aber wie schaurig es doch war, denn dem Freud passierte das Gleiche – die Melodie kam aus dem Nebenraum zu ihm.)
Die Figur Freuds und der Hauptdarsteller.
Der Hauptdarsteller Robert Finster (der Nachname!) zeichnet ein sympathisches und glaubwürdiges Bild des jungen Freud – sensibel, getrieben und doch integer, tiefgründig mit fesselndem Blick. Sein Holzfäller-Bart wirkt fast schon zeitgemäß und für mich persönlich ein Hingucker ;-P Die vielen Gesichter Freuds werden mit unterschiedlichen Namen angesprochen: Für die Mutter ist er der große Sigismund, für Freunde und die Verlobte – der Siggi, der Vater und der Kumpel nennen ihn salopp Schlomo (fast ein Akronym für Schalom).
Obwohl man ihn mit Doktor Freud anspricht und so manche körperlichen Wunden behandeln lässt, so ist er kein Arzt, der Rezepte verschreibt. Mit Freud ist eine neue Art von Doktor geboren: Als Psychoanalytiker ist er ein Detektiv, Profiler, Forscher, furchtloser Kartograf des unbekannten Terrains. Er stemmt sich gegen gewaltigen Widerstand seitens der Kollegen, der Klinikleitung bis zu den kaiserlichen Generalen und dem Kaiser selbst. Nur einer steht bis zum Schluss zu ihm und bleibt eine Mischung aus Freund und Patient – der Polizeiinspektor Kiss. Er konnte die Freuds Denkweise am ehesten noch verstehen und sich zunutze machen. Ihr Handwerk ist ja auch ähnlich.
Freud wird noch ganz am Anfang seiner Karriere gezeigt und oft als Scharlatan abgetan. Doch „die Welt wird eine andere sein“, so prophezeit ihm seine Verlobte. „Deine Zeit wird kommen, Freud, so oder so“, sagt zu ihm der Inspektor Kiss, als Freud sein Buchmanuskript auf die Anordnung des Kaisers Zähne knirschend verbrennt. Es gab also Menschen, die an ihn glaubten.
Und, können wir aus heutiger Zeit bestätigen, dass es so gekommen ist, dass sich Freuds Denkweise in den Massen durchgesetzt hat? Nein, wohl eher nicht. Nur eine kleine Gruppe der Menschen lebt im Alltag mit diesem Weltbild. Das Establishment inklusive der Regierung, der Wirtschaft und der Medien geht immer vom „rationalen“ Menschenbild aus – der Mensch, der alles über sich weißt und mit dem freien Willen sein Leben steuern kann. Wir glauben immer noch, dass uns die messbare Materie die einzig glaubwürdige Sicherheit vermittelt, also mit anderen Worten, dass die Erde flach ist.
Wichtige Message zum schicksalhaften Zeitpunkt.
Die Serie Freud ist eine Einladung, uns die verdrängte Entdeckung erneut anzuschauen und uns die Macht des Unbewussten in uns zu vergegenwärtigen. Das Timing dazu konnte nicht besser gewesen sein – als die ganze Welt angesichts eines Symptoms den Atem anhält. „Pass auf, was du dir wünscht, es könnte in Erfüllung gehen“, – pflegen wir uns zu sagen. Hand aufs Herz, haben wir uns nicht schon immer mal eine Pause vom Hamsterrad gewünscht? Na, bitte schön!
Es ist überfällig, dass wir alles, was mit uns geschieht, nicht als Zufall betrachten, sondern als etwas, was zu uns gehört, ob wir es verstehen oder noch nicht. Symptome sind eben nur das, was sie sind – Symptome und nicht das Problem selbst. Sie sind ein Hinweis auf etwas, was wir noch nicht sehen, nicht realisieren, nicht verstehen, eine Einladung zum Forschen und Begreifen.
„Die Macht des Unbewussten bedeutet, dass wenn man sich etwas unbewusst wünscht, bekommt man es im Guten wie im Schlechten. Oder anders ausgedrückt: Was aus einem geworden ist, in Wirklichkeit sein tiefster Wunsch war.“
Freud lehrt uns zu akzeptieren, dass die Welt hinter dem Horizont weitergeht, auch wenn wir es nicht sehen können. Auch die Welt unserer eigenen Seele ist größer, dunkler und unbekannter, als wir nur erahnen mögen. Er lehrt uns zu akzeptieren, dass wir nicht alles messen oder anfassen können, dass es Kräfte gibt, die wir nicht mit einer Formel berechnen können, die aber deswegen nicht weniger real sind und nicht weniger mächtig.
Wir alle sind getrieben und zerrissen, kämpfen gegen uns selbst und stapfen im Dunklen. Doch wenn wir unsere Dämonen nicht länger bekämpfen, sondern diese als Teil von uns annehmen – als Energiequelle, als Kraft und Feuer – dann werden wir erst zu dem, was wir gemeint waren zu werden.
Erst dann ist die Therapie abgeschlossen. „Der Nächste, bitte.“
Wir haben noch nicht gelitten.
Wir erleben gerade einen Ausnahmezustand – eine Krise – sagt man. Und wir fragen uns, wie unser Leben nach der Krise wohl aussehen wird?
Ich habe bereits eine schwere gesellschaftliche Krise hautnah erlebt – den Zusammenbruch des sozialistischen Systems. Ich bin in Russland aufgewachsen und diese Erfahrung ist mir noch sehr präsent, dazu erzähle ich gleich mehr. Aber was ist eine Krise eigentlich? Und wie kommen wir aus ihr wieder raus? Können wir danach das alte Leben wieder aufnehmen? Ich wage hier eine Prognose.
Eine Krise erleben wir dann, wenn es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher, weil es schlicht unmöglich ist. Eine alte Struktur trägt nicht mehr und fällt in sich zusammen. Es entsteht ein Vakuum und die Notwendigkeit einer neuen Struktur, die nun auf den Trümmern der alten entstehen kann.
Eine Krise ist nicht unbedingt etwas Negatives, es ist einfach ein Entwicklungssprung. Wenn sich eine Entwicklung nicht länger linear und graduell vollziehen kann, geschieht ein sprunghafter Übergang zu einem neuen qualitativen Zustand.
Hier ist ein Beispiel einer sehr gewöhnlichen Krise: Ein Küken schlüpft aus dem Ei. Sein gleichmäßiges Wachsen und Reifen im Ei kommt zum Ende und somit auch sein behütetes Leben im Inneren des Eis. Der Küken ist soweit gewachsen, dass er im Ei nicht länger bleiben kann. Er bricht aus dem Ei heraus und ein neues Leben außerhalb des Eis beginnt. Der Küken ist schlagartig mit einer neuen, sehr anderen Realität konfrontiert und muss neue Verhaltensweisen lernen, um sein Überleben zu sichern, wie z.B. die Mutter auf seinen Hunger eindringlich erinnern. Und das ist erst mal anstrengend, kritisch, neu. Und hier sind wir bei dem entscheidenden Punkt – eine Krise beinhaltet immer gewisses, oft sogar sehr großes Leiden. Leidensdruck ist unumgänglich, weil er der Motor der Veränderung ist. Wer nicht leidet, tut keinen Finger krumm. Auch für die Menschenkinder ist die Geburt eine große Krise: Plötzlich muss man atmen, saugen, verdauen und auf seine Bedürfnisse lautstark aufmerksam machen. Die bequeme Versorgung durch die Nabelschnur ist passé, der Wasserraum wechselt schlagartig zum Luftraum, die Anwesenheit der Mutter wird unterbrochen. Das alles ist eine große Umstellung, wenn nicht zu sagen ein Schock. Davon, wie gut wir die neuen Verhaltensweisen beherrschen, hängt unser Überleben ab. Die Not ist existenziell, es geht um das Leben und Tod. Der Leidensdruck ist der Schlüssel zum Überwinden einer Krise. Ohne ihn sind es nur lästige Umstände und bewirken noch lange keine Veränderung.
Nun erleben wir unsere aktuelle Situation als kritisch und trotz der Anspannung sind euphorische Stimmen nicht zu überhören: Die Luft wird sauberer, Fische schwimmen in Venedigs Kanälen, die Menschen singen zusammen auf dem Balkon, usw. Sind wir also in der schönen neuen Welt bereits angekommen, wie Matthias Horx in seinem aktuellen Text behauptet?
Ich sage: Nein, noch lange nicht. Das große Leiden steht und noch bevor, wenn die wirtschaftlichen Strukturen ins Schwanken kommen. Denn der Geldfluss ist bereits zum Stocken gekommen – das Blut unseres Wirtschaftssystems. Durch den gedrosselten Geldfluss droht uns wirtschaftlicher Infarkt. Noch tragen uns die vorhandenen Geldreserven wie die Nabelschnur nach der Geburt das restliche Blut noch eine Weile auspulsiert, doch diese Reserven sind nicht unendlich.
Ich erinnere mich an die Perestroika-Zeit in Russland Ende der 80 Jahre. Die Schraube des sozialistischen Systems war so stark zugedreht, dass sie überdrehte. Es ging ein Ventil auf. Freedom of speach bescherte uns die nie zuvor erlebte Freiheit der Meinungsäußerung. Wir sprachen uns den angestauten Frust frei von der Brust. Die Parlamentsdebatten waren das Spannendste, was man im Fernsehen sehen konnte. „Wind of change“ von Skorpions war unsere Hymne. Die Euphorie trug uns noch einige Jahre wie eine Welle den Surfer und wir kamen uns dabei verdammt cool vor. Doch es änderte sich zunächst nur das Gefühl, aber nicht unsere Lebensweise und nicht die Versorgungskette. Die alte Planwirtschaft lief träge wie bisher und mit ihr unsere passive Mentalität, dass der Staat uns schon versorgt. Perestroika bedeutet auf russisch der große Umbau und er stand uns noch bevor. Anfang der 90er Jahre brach das gesamte Wirtschaftssystem zusammen. Es kam die Rationierung der Lebensmittel. Wir bekamen jeden Monat Essenskarten auf die einfachsten Lebensmittel wie Mehl, Brot, Milch oder Zigaretten. Das waren düstere, depressive Zeiten, zugleich aber waren sie die Geburtsstunde der freien Marktwirtschaft, des Unternehmertums, der Kreativität und schließlich des neuen heutigen Russlands. „Das Schwierigste nach der Wende war für mich, selbst entscheiden zu müssen, was ich will“,- sagte eine Zeitzeugin, – „und es dann in die Tat umzusetzen“. Vom Staat über sich bestimmen zu lassen war zwar öde, aber sehr bequem. Doch die Selbstbestimmung war diese große, lang ersehnte Veränderung, die uns so unter den Nägeln brannte, aber im alten System unmöglich war.
Eine Krise ist, wenn es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher. Ist es bei uns gerade schon soweit? Ich glaube, dass wir eher noch warten, bis wir das Zuhause endlich verlassen dürfen und das alte Leben wieder aufnehmen. Eine Pause ist es auf jeden Fall, eine Verschnaufpause vom Hamsterrad, aber noch keine Krise. Es ist der erste Riss im Ei und der erste Luftzug von draußen, der etwas Neues verheißt. Wir spüren noch keine zwingende Notwendigkeit der Veränderung, auch wenn wir es vom Verstand aus für nötig halten. Erst wenn wir in der neuen Welt mühsam lernen müssen uns zu bewegen und uns auf eine neue Art und Weise zu versorgen, wird daraus eine Krise. Wir haben noch nicht gelitten, nicht genug. Es war noch nicht existenziell, noch nicht. Die aktuelle „Krise“ ist nur der Vorbote einer viel größeren, tiefergehenden Krise, die, wenn wir Glück haben, uns grundlegend verändern wird, uns als Gattung homo sapiens.
Wenn die Liebe das Licht des Universums ist, wie Albert Einstein im Brief an seine Tochter schriebt, so ist das Leiden – die dunkle Materie des Universums, die zwar unsichtbar aber ungleich gewichtiger ist. Die wahre Währung dieser Welt ist nicht das Geld, sondern das Leiden. Die Veränderung zum Besseren wird uns nicht geschenkt, sondern muss mit Leiden erkämpft werden. Stellen wir uns besser darauf ein.
Endlich ist nichts mehr wie es war.
Den Warnschuss haben wir alle gehört. Ich hoffe, es muss nicht noch schlimmer kommen, damit wir die “Message” wirklich verinnerlicht haben. Ich hoffe auch, dass wir diese Zeit nicht einfach nur aussitzen und warten bis wir so weiter machen können wie bisher, sondern ernst nachdenken und die aktuelle Krise als Chance zur tiefgreifenden Veränderung nutzen.
An dieser Stelle möchte ich die wunderbaren Worte von ©Tanja Draxler mit euch teilen, besser kann ich es nicht sagen. Sie schreibt:
“Es könnte sein, dass in Italiens Häfen die Schiffe für die nächste Zeit brach liegen, … es kann aber auch sein, dass sich Delfine und andere Meereslebewesen endlich ihren natürlichen Lebensraum zurückzuholen dürfen. Delfine werden in Italiens Häfen gesichtet, die Fische schwimmen wieder in Venedigs Kanälen!
Es könnte sein, dass sich Menschen in ihren Häusern und Wohnungen eingesperrt fühlen, … es kann aber auch sein, dass sie endlich wieder miteinander singen, sich gegenseitig helfen und seit langem wieder ein Gemeinschaftsgefühl erleben. Menschen singen miteinander!!! Das berührt mich zutiefst!
Es könnte sein, dass die Einschränkung des Flugverkehrs für viele eine Freiheitsberaubung bedeutet und berufliche Einschränkungen mit sich bringt,… es kann aber auch sein, dass die Erde aufatmet, der Himmel an Farbenkraft gewinnt und Kinder in China zum ersten Mal in ihrem Leben den blauen Himmel erblicken. Sieh dir heute selbst den Himmel an, wie ruhig und blau er geworden ist!
Es könnte sein, dass die Schließung von Kindergärten und Schulen für viele Eltern eine immense Herausforderung bedeutet,…es kann aber auch sein, dass viele Kinder seit langem die Chance bekommen, endlich selbst kreativ zu werden, selbstbestimmter zu handeln und langsamer zu machen. Und auch Eltern ihre Kinder auf einer neuen Ebene kennenlernen dürfen.
Es könnte sein, dass unsere Wirtschaft einen ungeheuren Schaden erleidet,… es kann aber auch sein, dass wir endlich erkennen, was wirklich wichtig ist in unserem Leben und dass ständiges Wachstum eine absurde Idee der Konsumgesellschaft ist. Wir sind zu Marionetten der Wirtschaft geworden. Es wurde Zeit zu spüren, wie wenig wir eigentlich tatsächlich brauchen.
Es könnte sein, dass dich das auf irgendeine Art und Weise überfordert, … es kann aber auch sein, dass du spürst, dass in dieser Krise die Chance für einen längst überfälligen Wandel liegt,
– der die Erde aufatmen lässt,
– die Kinder mit längst vergessenen Werten in Kontakt bringt,
– unsere Gesellschaft enorm entschleunigt,
– die Geburtsstunde für eine neue Form des Miteinanders sein kann,
– der Müllberge zumindest einmal für die nächsten Wochen reduziert,
– und uns zeigt, wie schnell die Erde bereit ist, ihre Regeneration einzuläuten, wenn wir Menschen Rücksicht auf sie nehmen und sie wieder atmen lassen.
Wir werden wachgerüttelt, weil wir nicht bereit waren es selbst zu tun. Denn es geht um unsere Zukunft. Es geht um die Zukunft unserer Kinder!!!”
Embodiment in aller Munde
Je länger ich als Psychotherapeutin arbeite, desto mehr verspüre ich das Bedürfnis, nicht nur die Seele, sondern auch den ganzen Körper der Klienten in den Prozess der Heilung mit einzubeziehen. Denn das Eine existiert nicht ohne das Andere – die Seele und der Körper sind nicht getrennt, sondern nur zwei Seiten eines Ganzen und sind unzertrennlich. Zum Teil gelingt mir das Einbeziehen des Körpers während der Arbeit mit dem „Inneren Kind“. Hier erinnern wir uns an Erfahrungen aus der vorverbalen Zeit. Dank des Zellengedächtnisses unseres Körpers können wir uns zwar nicht an die konkreten Ereignisse erinnern, sehr wohl jedoch an das überdauernde Gefühl in der Zeit, zum Beispiel das Gefühl gebunden oder verlassen zu sein, in Sicherheit zu sein oder permanent bedroht.
Der Körper kann sprechen und tut es eigentlich die ganze Zeit, wir hören bloß wenig zu. Nur wenn es wehtut, bemerken wir unseren Körper und gehen zum Arzt, aber auch er hört wenig darauf, was der Körper uns eigentlich sagen will, sondern verschreibt etwas, was den Körper wieder schnell zum Schweigen bringt – die Symptombehandlung eben.
Die gute Nachricht ist jedoch, dass sich die Sicht der Dinge zunehmend ändert. Das globale Bewusstsein steigt und wir lernen, auf die Signale unseres Körpers zu achten und diese zu lesen. Das gute Beispiel für das steigende Interesse zum Körper unter den Fachmenschen ist die aktuell stattfindende, die erste im russischen Sprachraum Online-Konferenz, die dem Embodiment – also der Körperlichkeit gewidmet ist. Ich fühle mich gesegnet und bin sehr glücklich, dass ich durch meinen mehrsprachigen Hintergrund an dieser Konferenz teilnehmen kann und vom großen Schatz der einsichtsreichen, intelligenten und erfahrenen Fachleute aus unterschiedlichsten Bereichen, die mit dem menschlichen Körper in Kontakt treten, schöpfen kann. Einige Speaker sind aus dem Ausland und sprechen Englisch. Es lohnt sich also der Blick in das Programm, das noch einige Zeit nach dem Schließen der Konferenz in Aufzeichnung verfügbar sein wird.
Und natürlich werde ich schon hoffentlich bald mein professionelles Angebot auf den Körper ausweiten. Angedacht sind z. B. die Tanztherapie (auch als Eltern-Kind-Tanztherapie) und Embodiment-Yoga. Ich werde berichten.
Meine persönliche Geschichte der Schöpfung. Warum sind wir hier? (Teil 1 von 3)
– Mama, wie sind die Menschen entstanden?
Tja, die Fragen unserer Kinder erwischen uns manchmal wie ein Schauerregen.
– Hm, mal überlegen. Die einen sagen, der Gott hat sie nach eigenem Vorbild erschaffen und dann gibt es noch den Herrn Darwin, und er sagt, sie stammen vom Affen ab.
– Und was glaubst du?
Ups, jetzt muss ich mich bekennen und überlege.
Ok, dann verrate ich dir (und euch allen in der Welt) meine ganz persönliche Theorie darüber, wie der Mensch entstanden ist. Die Anregung kam von einem Kinderbuch, das wie mir scheint, eher die naturwissenschaftliche Ansicht der Dinge vermitteln wollte. Aber nur auf den ersten, oberflächlichen Blick.
Es ist das Buch vom klugen Fisch aus der Urzeit, der sehr neugierig war und ans Land gehen wollte, der Pionier sozusagen. Er hat ein Experiment gewagt und sich Füße gebastelt und ist mit ihnen ans Land gegangen. Seine Nachfolger haben die Idee vom Gehen verinnerlicht und ihnen sind letztendlich statt Flossen Füße gewachsen. Von diesen „Landfischen“ sind dann alle anderen Arten entstanden, inklusive der Säugetiere und des Menschen, so das Buch.
Eine Evolution also? Eine Entwicklung, ja! Aber, die entscheidende Frage ist doch, warum die Entwicklung ausgerechnet diese Richtung angenommen hat? Laut Darwin haben Lebewesen ständig aus Zufall mutiert und die glücklich mutierten, konnten sich besser anpassen und haben besser überlebt. Das Wort Zufall hat mich darin aber schon immer gestört. Zufall klingt so Sinn entleert, oder nicht? Zu-Fall! Was fällt uns zu, und warum?
– Warum sind dem klugen Fisch (oder seinen Nachfolgern) die Füße gewachsen?, – frage ich meine Tochter.
– Na, weil er das wollte, – völlig selbstverständlich antwortet sie.
Und das ist der entscheidende Punkt: Weil er das wollte! Der Wunsch, oder besser gesagt, das Bewusstsein war die treibende Kraft dieser Verwandlung. Es fällt uns also das zu, was wir uns wünschen. Das Bewusstsein, das eine Richtung anstrebt, bringt schließlich die Materie dorthin und manifestiert sich in Tatsachen. Daraus schließe ich, dass jemand wollte, dass es Säugetiere und den Menschen und dich und mich gibt, sonst wären wir nicht da. Aber wer war das??? War das etwa der Gott himself? Ich weiß nicht, wer Gott ist und die Gestalt eines alten Mannes mit Bart irritiert mich. Ich mag das Wort Universum viel lieber. Das Universum mit seinem universalen Bewusstsein, das alles durchdringt, klingt für mich angenehm.
Dieses Bewusstsein tragen wir in uns, und so erwünschen und erträumen wir unsere eigene Realität zustande, in der wir leben. Alles was wir um uns herum sehen ist die Verlängerung und die Spiegelung unserer inneren Welt. Und wenn dir dein Leben eher wie ein komischer Zufall vorkommt, so frag dich, warum dir das alles zu-fällt?
Daher ist meine Antwort auf die Frage meiner Tochter weder das eine noch das andere. Es ist viel mehr die Kombination aus beidem: Ja, es war eine Evolution, aber mit einer sehr bestimmten Richtung. Die Richtung der evolutionären Entwicklung ist ein immer höherer Bewusstseinsgrad.
Aber sind wir Menschen nun wirklich die Krönung der Schöpfung? Puh, das ist ein ganz anderes Thema.
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Im zweiten Teil meiner persönlichen Geschichte der Schöpfung lest ihr über das Sterben, und zwar auf eine Art und Weise, wie ihr vielleicht noch nicht über dieses Thema gelesen habt.
Taubennest auf unserem Balkon
Diesen Sommer wurden wir mächtig überrascht, als wir viele kleine Zweige auf unserem Balkon rund um den eingerollten, an der Wand angelehnten Teppich fanden. Der Spur folgend fanden wir schließlich im inneren des Teppichs ein Nest mit zwei kleinen Eier drin. Schon vor Tagen ist uns eine Taube aufgefallen, die immer wieder auf unserem Balkongelände saß, nun wussten wir den Grund – sie hat beschlossen, Nachwuchs auf unserem Balkon zu bekommen.
Es weckte sofort solidarische Gefühle in mir mit dieser Mutter, die voller Angst und Sorge war, und doch so nah bei dem Menschen brüten musste, als hätte sie keinen besseren Platz gefunden. (Vom befreundeten Gärtner weiß ich, dass sie selbst auf den Bäumen keine Taubennester lassen dürfen und sie niederschlagen müssen!) Wir haben beschlossen, das Nest zu behalten, und so haben meine Kinder und ich hautnah erlebt, wie eine Taube ihre Kinder bekommt und wie sie groß werden.
Sicher war der gewählte Platz jedoch nicht und so kippte der Teppich schon beim ersten Sturm um und die beiden Eier gingen zu Bruch. Kurze Zeit später lagen im bereits flach liegenden Teppich zwei neue Eier! Mit beeindruckender Entschlossenheit saß die Taube Tag und Nacht auf ihren Eiern und rührte sich nicht vom Fleck. Ab und zu hat sie an den Zweigen ihres Nestes gezupft und geknabbert. Ich glaube, das war das Einzige, was sie in dieser Zeit zu sich genommen hat. Wie selbstlos!
Einige Wochen später war es so weit – ein Küken war geschlüpft. Doch es stimmte etwas nicht. Es lag nur auf der Seite, atmete schwer und hat ganz schwach den Schnabel aufgerissen. Es wirkte unreif und nicht lebensfähig. Die Taube hat das Küken nicht gefüttert. Sie saß davor und hat es angeschaut. Zwei Tage lag das neugeborene Küken im Sterben. Es hat den Schnabel nicht mehr aufgerissen aber noch sehr lange geatmet und irgendwann nicht mehr. Die Muttertaube saß noch zwei Tage vor dem toten Küken regungslos. Ich konnte ihre Trauer spüren.
Nach zwei Tagen hat sie das tote Küken mit den Zweigen zugedeckt und war wieder voller Leben. Das zweite Küken war da. Im inneren des Teppichs saß noch ein Wesen – viel größer und flauschiger als das Erste. Es stand auf eigenen Beinen und schwappte leicht hin und her. Meine Kinder waren entzückt. Nun ging das Geschäft los – im wahrsten Sinne des Wortes. Bis dato hatten wir von der Taube keinen einzigen Fleck auf dem Balkon gesehen, aber jetzt war es immer voller. Oh, je! Die Taube war beschäftigt, das Futter heranzuschaffen, und aß selber endlich wieder. Oft saßen die beiden abends einfach neben einander – die Mamataube und der „Flauschiball“ gemütlich beisammen. Meine Kinder riefen überglücklich: „Oh, wie süß!“
Das Kind wuchs heran und der Flaum weichte langsam den Federn, zuerst am Schwanz und dann an den Flügeln spießten die Federspitzen und die neue Taube bekam Gestalt. „Mama, das Küken sieht ja schon wie eine richtige Taube aus“, – stellten die Kinder fest. Die Mama war immer seltener da, übernachtete aber noch zusammen mit ihrem Kind. Irgendwann kam sie auch nachts nicht mehr „heim“ und das Küken war überwiegend alleine. Man sah die Mama-Taube mit der Papa-Taube wieder vereint und am Turteln auf dem Dach gegenüber. Die beiden genossen sichtbar wieder ihre Zweisamkeit. Ab und zu besuchten sie zusammen ihr Nachwuchs und das Kind war aus dem Häuschen vor Freude. Es schmuste Schnabel an Schnabel mit den Eltern, gab freudige Lauten von sich und konnte nicht genug bekommen. Die Freude war überschwänglich. Wie ähnlich alle Kinder doch sind, dachte ich mir.
Irgendwann kamen die Eltern zu Besuch, setzten sich aber nicht mehr zum Nest, sondern nur auf das Gelände. „Mama, ich glaube, sie wollen ihr Kind herauslocken“, – sagte meine Tochter. Die junge Taube streckte immer wieder ihre Flügel aus und flatterte auf das Teppichdach und wieder herunter. Irgendwann war ich mir nicht mehr sicher, ob es einer der Eltern oder vielleicht das Kind selbst auf dem Gelände saß.
Und nun seit einigen Tagen ist der Balkon wieder unbewohnt. Das Nest ist verlassen und das Küken ist da draußen in der Welt. Wir erkennen es noch an seinem nicht ganz so geschmeidigen Flug und am unbeholfenen Landen auf dem Dach gegenüber. „Die Taube fliegt ja noch wie ein Anfänger.“ Ja, aber sie fliegt, erkundet die Umgebung, bestaunt andere Vögel und lebt jetzt ein ganz normales Leben einer Taube.
Es hat keine zwei Monate gedauert vom Eierlegen bis die junge Taube ihr Nest verlassen hat. Den leeren Teppich kann ich endlich wieder entsorgen. Was für eine Geschichte! Wir sind erleichtert und glücklich. Wer hätte gedacht, dass das Kinderkriegen einer Taube unserem doch so ähnlich ist?
Die Reise zu den Wurzeln.
Wir habe es getan – drei Wochen lang habe ich mit meinen drei Kindern Russland bereist. Vier Städte haben wir besucht: Kazan und Joschkar-Ola an der Wolga, danach Moskau und St. Petersburg. Wir sind mit Booten und Schlafzügen gefahren, unbekannte private Mitfahrt für 300 km in Anspruch genommen, mit schweren Koffern mit der U-Bahn gefahren, die Wolga und Leninstatuen gesehen, Kunstgalerien, königliche Residenzen und einfache private Ein-Zimmer-Wohnungen besucht. Bunter könnte es kaum gewesen sein.
Zugegeben, im Züge der Reisevorbereitung hatte ich weiche Knie: Ob alle Schnittstellen und Überfahrten klappen werden, ob ich mich mit dem Geld nicht verkalkuliert habe und natürlich, wie meine Kinder das unbekannte Land erleben werden? Sie waren noch nie vorher in Russland und hatten noch nie ihre russischen Großeltern und die Tante live erlebt (durch Skype natürlich schon). Sie sprechen kein Russisch und waren „Ausländer“ in meinem Herkunftsland.
Ich war auch aufgeregt, nach elf Jahren meine Eltern wieder zu sehen. Wir hatten früher kein einfaches Verhältnis (nicht umsonst zieht man ja Tausende Kilometer von seiner Herkunftsfamilie weg) und ich hatte die Sorge, ob die alten Themen nicht wie eine Wand wieder zwischen uns wachsen werden. Doch die Begegnung und die gemeinsamen Tage verliefen in gelöster und guter Stimmung. Meine Kinder hatten keine Berührungsängste mit ihrer bisher unbekannten Verwandtschaft. Die Sprachbarriere stellte kein so großes Problem dar, besonders mit der dreijährigen russischen Nichte. Ich habe meine Kinder aufgeschlossen für Neues erlebt.
Uns so ist das Reisen – man verlässt sein gewohntes Umfeld und schaut über den Tellerrand hinaus. Zurück in unsere überschaubare Kleinstadt kamen wir ein wenig verändert, bereichert und ein ganzes Stück gereift. Nun kann uns der Alltag wieder einholen.
Mein neues Ich als Mama
Diesem spannenden Themen widmet sich die neue Ausgabe von “Eltern” und ich durfte mit einem Interview zum Titelthema beitragen.
Inga Erchova ist Dipl.-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Autorin und dreifache Mutter. Erfahre mehr über sie und ihre Arbeitsweise…
Mein Buch
Psychotherapie am Telefon oder über Skype
Nicht immer müssen wir mit dem Therapeuten im gleichen Raum sein. Das Telefon bietet den Vorteil, dass man in vertrauter Umgebung eigener vier Wände bleibt und sich dadurch besser öffnen kann. Bei einer Sitzung über Skype vergisst man oft die räumliche Distanz und einige Zeitzonen Zeitunterschied.
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