Gefühle statt Diagnosen
Gefühle statt Diagnosen
Weil sie unseren Fokus nach außen lenken. Wir reden dann nur über die Mutter (oder über die Anderen) und darüber, was sie alles „falsch“ machen. Es fühlt sich an wie Lästern. Wir regen uns auf, entwickeln Wut, stellen sie womöglich zur Rede und treiben in die Defensive. Das Ganze droht zu eskalieren und niemand ist geheilt. Statt nach innen zu schauen und zu fühlen.
Um zu heilen, müssen wir zu uns selbst finden. Wichtig ist dabei, nicht wie unsere Mutter wirklich war, sondern wie wir sie erlebt haben, wie es uns mit ihr ergangen war. Fühlten wir uns in ihrer Nähe verbunden oder alleine, verstanden oder verurteilt, gesehen oder missachtet, angehimmelt oder beschämt. Diese Gefühle verbinden uns mit unsrem Innenleben und mit uns selbst. Das Problem ist nur, dass wir schon sehr früh verlernt haben, zu fühlen und unseren Gefühlen zu vertrauen. Sie wurden uns ja abgesprochen, wir dürften negative Gefühle nicht äußern. Wir mussten lieb und brav sein, sonst drohte die Strafe mit Schweigen und Kontaktentzug. So haben wir schon sehr früh unseren inneren Kompass anderen zuliebe zur Seite geschoben.
Um die alten Gefühle wieder zu entdecken, hilft es, konkret zu werden: „Erzähle mir reale Ereignisse und Beispielen wie z. B. gemeinsame Mahlzeiten, zu Bett Begleitung, Hilfestellung bei Schwierigkeiten, Hausaufgaben, die Wochenenden, Kindergeburtstage oder Weihnachten. Wie war es? Erzähle mir wahre Geschichten!“ Und dann spüren wir etwas, wir sehen Farben, hören den Ton der Stimmen, erleben die Stimmung, Freude, Hoffnungen oder Verzweiflung, die Einsamkeit, die Traurigkeit von nicht verstanden werden, Schamgefühle, Erwartungen, eisige Kälte, geistige Abwesenheit, seelische Distanz oder brennende Ungerechtigkeit.
Und müssen wir unserer Mutter denn alles durchgehen lassen? Dürfen wir nicht böse auf sie sein? Es ist eine Frage. Auch unsere Mutter ist nur ein Produkt ihrer eigenen Lebensgeschichte und ihres Leidenswegs. Wie jede Mutter wollte sie wahrscheinlich nur das Beste für uns, konnte es aber nur soweit bringen. Wenn wir sie beschreiben, dann ist sie wahrscheinlich „selbstbezogen, ohne Einfühlungsvermögen, geht immer nur von sich aus. Die Welt ist so, wie sie sich diese vorstellt. Andere Weltbilder haben für sie keine Daseinsberechtigung.“ Das ist die Beschreibung eines unreifen Menschen, der in seiner seelischen Entwicklung zurückgeblieben ist, in seiner kindischen Selbstbezogenheit.
Als wir klein waren, kam uns unsere Mutter aber völlig normal vor. Wir hatten ja keine andere und daher keinen Vergleich. Wir haben sie geliebt, so wie sie war. Diese Liebe ist angeboren. Jedes Kind liebt die Mutter, die es bekommt. Erst als Erwachsene fühlen wir uns durch sie betrogen, wenn wir unsere Entbehrungen bewusst werden. Doch die Wut hilft uns nicht. Sie übertüncht oft nur die hinter ihr tief verborgene Traurigkeit.
Wenn ich für meine Klienten diese Distanz, die Einsamkeit oder Verzweiflung in Worte fasse und zum Spiegel werde, höre ich dann: „So habe ich es noch nie gesehen“. Etwas bewegt sich im Inneren, ein neues Selbstbild entsteht. Wir kommen an unsere wahren Gefühle heran, das heißt auch an uns selbst. Wenn wir begreifen, was wir wirklich erlebt haben, verstehen wir besser, wer wir heute sind, was uns geformt hat und woher wir kommen. Wir kommen unserer seelischen Wahrheit näher. Das bedeutet für mich Heilung.
Wenn wir aber Etiketten verteilen, dann sprechen wir nur über den Anderen und kommen uns selbst kein Stück näher. Etiketten sind statische Bilder, Käfige, Stigmas, Diagnosen, Bestimmer des Schicksals, Fahrkarte auf nur einer Strecke mit keiner Option zum Umsteigen.
Es ist ein Unterschied zu sagen „Du bist so oder so“, oder „dir geschieht gerade etwas“. Fühle den Unterschied:
„Du bist ein Taugenichts“ vs. „Du findest gerade nichts, was dich begeistert und deinem Talent entspricht?“
„Du bist eine Zicke“ vs. „Es scheint, als wärest du nicht einverstanden, dass dich etwas stört?“
„Du bist eine Mimose“ vs. „Du empfindest viel und erlebst Dinge intensiv.“
Die „offene“ Beschreibung gibt dem Menschen eine Möglichkeit, sich auch mal anders zu verhalten, währen die Etiketten betonieren uns in eine feste Schablone fest.
Manche empfinden es aber entlastend, als „etwas“ benannt zu werden und eine Art Diagnose zu bekommen. Hier wird das Verlangen nach Sicherheit und Zuverlässigkeit spürbar. Es ist ein kindisches Verlangen, wenn wir die Aufregung der Erwachsenen erlebten, wussten aber nicht, was an uns „falsch“ war. Es fehlt uns daher der innere Kompass und die Verbundenheit mit sich selbst. Und wenn alles schwimmt, dann wird so eine „Diagnose“ als Erleichterung erlebt, immerhin steht es schwarz auf weiß. Endlich weiß ich, was ich habe. Aber das ist eine falsche Sicherheit. Niemand kommt auf die Welt mit einer „Macke“. Sehr wohl aber erleben wir Dinge und tragen Wunden davon.
Das Fühlen ist der Schlüssel zum Heilen. Wenn wir uns selbst wieder spüren, spüren wir auch andere Menschen und erkennen, dass sie ebenfalls leiden oder hoffen, sich bemühen oder uns Gefallen tun. Wir sehen zum ersten Mal in ihre Augen und dahinter. Wir erkennen, dass unsere Mutter nicht per se böse oder etwa krank an Narzissmus ist, sondern vor allem eins – verletzt, innerlich verhärtet, eingefroren, seelisch verstümmelt aufgrund dessen, was sie selbst erlebt hat. Niemand ist schuld im ewigen Fluss des Leidens, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Aber wir können ihn unterbrechen, indem wir uns wieder spüren. So müssen wir das Leiden nicht wieder bei jemanden abladen, wie zum Beispiel bei unseren Kindern.
Hütet euch daher vor Bezeichnungen wie narzisstisch, gefühlsstark, hochsensibel etc., auch von allen Arten von Ansätzen, Ideologien und Ismen, wie Bedürfnis orientiert, artgerecht, attached, etc. Wie hübsch sie auch klingen mögen, helfen sie uns nicht, der Wahrheit näher zu kommen – an das, was mit uns geschieht, an das, was wir fühlen und erleben. Die Antworten sind nicht im Außen, sondern in uns. Wir müssen zuerst unsere Gefühle wieder spüren, der Rest ergibt sich ganz von alleine.
Ich unterscheide schon lange nicht mehr zwischen Menschen, die intelligent sind oder dumm, reich oder arm, schön oder durchschnittlich, sondern zwischen Menschen, die fühlen und denjenigen, die es nicht tun, Menschen, die sich selbst nah sind und denjenigen, die Fremde sind in ihrem eigenen seelischen Zuhause. Die Letzten kann man sehr leicht erkennen, da sie nichts Persönliches von sich preisgeben, nicht von ihren Gefühlen erzählen und jede Frage nur mit Floskeln beantworten. Sie beschränken sich auf Schablonen und an die gerade vertretbaren Meinungen. Finden Dinge gut oder schlecht. Diese Menschen fühlen sich an wie Attrappen, mit denen kein echter Kontakt von Seele zur Seele möglich ist.
Hütet euch vor Attrappen, hütet euch vor Etiketten. Fühlt, was mit euch geschieht.
Inga Erchova ist Dipl.-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Autorin und dreifache Mutter. Erfahre mehr über sie und ihre Arbeitsweise…
Buchvorschau
Psychotherapie am Telefon oder über Skype
Nicht immer müssen wir mit dem Therapeuten im gleichen Raum sein. Das Telefon bietet den Vorteil, dass man in vertrauter Umgebung eigener vier Wände bleibt und sich dadurch besser öffnen kann. Bei einer Sitzung über Skype vergisst man oft die räumliche Distanz und einige Zeitzonen Zeitunterschied.
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