Gefühle statt Diagnosen

Gefühle statt Diagnosen

Gefühle statt Diagnosen

„Meine Mutter ist narzisstisch“ – höre ich oft von Frauen, mit denen ich arbeite. Und obwohl ich genau weiß, was sie meinen, spüre ich inneren Widerstand gegen diese Art von Bezeichnung. Ja, fast schon Wut auf „Fachautoren“, die solche erfinden und verbreiten (ich erwähne hier nur „gefühlsstark“ oder „hochsensibel“). Alle diese Bezeichnungen bringen nicht die Wahrheit zum Tageslicht. Ganz im Gegenteil, sie entfernen uns sogar von der Wahrheit und von uns selbst. Sie heilen nichts und erschweren nur die Heilung. Warum ist es so?

Weil sie unseren Fokus nach außen lenken. Wir reden dann nur über die Mutter (oder über die Anderen) und darüber, was sie alles „falsch“ machen. Es fühlt sich an wie Lästern. Wir regen uns auf, entwickeln Wut, stellen sie womöglich zur Rede und treiben in die Defensive. Das Ganze droht zu eskalieren und niemand ist geheilt. Statt nach innen zu schauen und zu fühlen.  

Um zu heilen, müssen wir zu uns selbst finden. Wichtig ist dabei, nicht wie unsere Mutter wirklich war, sondern wie wir sie erlebt haben, wie es uns mit ihr ergangen war. Fühlten wir uns in ihrer Nähe verbunden oder alleine, verstanden oder verurteilt, gesehen oder missachtet, angehimmelt oder beschämt. Diese Gefühle verbinden uns mit unsrem Innenleben und mit uns selbst. Das Problem ist nur, dass wir schon sehr früh verlernt haben, zu fühlen und unseren Gefühlen zu vertrauen. Sie wurden uns ja abgesprochen, wir dürften negative Gefühle nicht äußern. Wir mussten lieb und brav sein, sonst drohte die Strafe mit Schweigen und Kontaktentzug. So haben wir schon sehr früh unseren inneren Kompass anderen zuliebe zur Seite geschoben.   

Um die alten Gefühle wieder zu entdecken, hilft es, konkret zu werden: „Erzähle mir reale Ereignisse und Beispielen wie z. B. gemeinsame Mahlzeiten, zu Bett Begleitung, Hilfestellung bei Schwierigkeiten, Hausaufgaben, die Wochenenden, Kindergeburtstage oder Weihnachten. Wie war es? Erzähle mir wahre Geschichten!“ Und dann spüren wir etwas, wir sehen Farben, hören den Ton der Stimmen, erleben die Stimmung, Freude, Hoffnungen oder Verzweiflung, die Einsamkeit, die Traurigkeit von nicht verstanden werden, Schamgefühle, Erwartungen, eisige Kälte, geistige Abwesenheit, seelische Distanz oder brennende Ungerechtigkeit.  

Und müssen wir unserer Mutter denn alles durchgehen lassen? Dürfen wir nicht böse auf sie sein? Es ist eine Frage. Auch unsere Mutter ist nur ein Produkt ihrer eigenen Lebensgeschichte und ihres Leidenswegs. Wie jede Mutter wollte sie wahrscheinlich nur das Beste für uns, konnte es aber nur soweit bringen. Wenn wir sie beschreiben, dann ist sie wahrscheinlich „selbstbezogen, ohne Einfühlungsvermögen, geht immer nur von sich aus. Die Welt ist so, wie sie sich diese vorstellt. Andere Weltbilder haben für sie keine Daseinsberechtigung.“ Das ist die Beschreibung eines unreifen Menschen, der in seiner seelischen Entwicklung zurückgeblieben ist, in seiner kindischen Selbstbezogenheit.   

Als wir klein waren, kam uns unsere Mutter aber völlig normal vor. Wir hatten ja keine andere und daher keinen Vergleich. Wir haben sie geliebt, so wie sie war. Diese Liebe ist angeboren. Jedes Kind liebt die Mutter, die es bekommt. Erst als Erwachsene fühlen wir uns durch sie betrogen, wenn wir unsere Entbehrungen bewusst werden. Doch die Wut hilft uns nicht. Sie übertüncht oft nur die hinter ihr tief verborgene Traurigkeit. 

Wenn ich für meine Klienten diese Distanz, die Einsamkeit oder Verzweiflung in Worte fasse und zum Spiegel werde, höre ich dann: „So habe ich es noch nie gesehen“. Etwas bewegt sich im Inneren, ein neues Selbstbild entsteht. Wir kommen an unsere wahren Gefühle heran, das heißt auch an uns selbst. Wenn wir begreifen, was wir wirklich erlebt haben, verstehen wir besser, wer wir heute sind, was uns geformt hat und woher wir kommen. Wir kommen unserer seelischen Wahrheit näher. Das bedeutet für mich Heilung.   

Wenn wir aber Etiketten verteilen, dann sprechen wir nur über den Anderen und kommen uns selbst kein Stück näher. Etiketten sind statische Bilder, Käfige, Stigmas, Diagnosen, Bestimmer des Schicksals, Fahrkarte auf nur einer Strecke mit keiner Option zum Umsteigen. 

Es ist ein Unterschied zu sagen „Du bist so oder so“, oder „dir geschieht gerade etwas“. Fühle den Unterschied: 

„Du bist ein Taugenichts“ vs. „Du findest gerade nichts, was dich begeistert und deinem Talent entspricht?“ 

„Du bist eine Zicke“ vs. „Es scheint, als wärest du nicht einverstanden, dass dich etwas stört?“ 

„Du bist eine Mimose“ vs. „Du empfindest viel und erlebst Dinge intensiv.“ 

Die „offene“ Beschreibung gibt dem Menschen eine Möglichkeit, sich auch mal anders zu verhalten, währen die Etiketten betonieren uns in eine feste Schablone fest.  

Manche empfinden es aber entlastend, als „etwas“ benannt zu werden und eine Art Diagnose zu bekommen. Hier wird das Verlangen nach Sicherheit und Zuverlässigkeit spürbar. Es ist ein kindisches Verlangen, wenn wir die Aufregung der Erwachsenen erlebten, wussten aber nicht, was an uns „falsch“ war. Es fehlt uns daher der innere Kompass und die Verbundenheit mit sich selbst. Und wenn alles schwimmt, dann wird so eine „Diagnose“ als Erleichterung erlebt, immerhin steht es schwarz auf weiß. Endlich weiß ich, was ich habe. Aber das ist eine falsche Sicherheit. Niemand kommt auf die Welt mit einer „Macke“. Sehr wohl aber erleben wir Dinge und tragen Wunden davon.

Das Fühlen ist der Schlüssel zum Heilen. Wenn wir uns selbst wieder spüren, spüren wir auch andere Menschen und erkennen, dass sie ebenfalls leiden oder hoffen, sich bemühen oder uns Gefallen tun. Wir sehen zum ersten Mal in ihre Augen und dahinter. Wir erkennen, dass unsere Mutter nicht per se böse oder etwa krank an Narzissmus ist, sondern vor allem eins – verletzt, innerlich verhärtet, eingefroren, seelisch verstümmelt aufgrund dessen, was sie selbst erlebt hat. Niemand ist schuld im ewigen Fluss des Leidens, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Aber wir können ihn unterbrechen, indem wir uns wieder spüren. So müssen wir das Leiden nicht wieder bei jemanden abladen, wie zum Beispiel bei unseren Kindern. 

Hütet euch daher vor Bezeichnungen wie narzisstisch, gefühlsstark, hochsensibel etc., auch von allen Arten von Ansätzen, Ideologien und Ismen, wie Bedürfnis orientiert, artgerecht, attached, etc. Wie hübsch sie auch klingen mögen, helfen sie uns nicht, der Wahrheit näher zu kommen – an das, was mit uns geschieht, an das, was wir fühlen und erleben. Die Antworten sind nicht im Außen, sondern in uns. Wir müssen zuerst unsere Gefühle wieder spüren, der Rest ergibt sich ganz von alleine. 

Ich unterscheide schon lange nicht mehr zwischen Menschen, die intelligent sind oder dumm, reich oder arm, schön oder durchschnittlich, sondern zwischen Menschen, die fühlen und denjenigen, die es nicht tun, Menschen, die sich selbst nah sind und denjenigen, die Fremde sind in ihrem eigenen seelischen Zuhause. Die Letzten kann man sehr leicht erkennen, da sie nichts Persönliches von sich preisgeben, nicht von ihren Gefühlen erzählen und jede Frage nur mit Floskeln beantworten. Sie beschränken sich auf Schablonen und an die gerade vertretbaren Meinungen. Finden Dinge gut oder schlecht. Diese Menschen fühlen sich an wie Attrappen, mit denen kein echter Kontakt von Seele zur Seele möglich ist.  

Hütet euch vor Attrappen, hütet euch vor Etiketten. Fühlt, was mit euch geschieht.  

Über mich

Inga Erchova ist Dipl.-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Autorin und dreifache Mutter. Erfahre mehr über sie und ihre Arbeitsweise…

Buchvorschau

Jede Mutter kann glücklich sein

Psychotherapie am Telefon oder über Skype

Nicht immer müssen wir mit dem Therapeuten im gleichen Raum sein. Das Telefon bietet den Vorteil, dass man in vertrauter Umgebung eigener vier Wände bleibt und sich dadurch besser öffnen kann. Bei einer Sitzung über Skype vergisst man oft die räumliche Distanz und einige Zeitzonen Zeitunterschied.

© 2022 Inga Erchova  Kontakt · Impressum · Datenschutz

Meine Arbeit aktuell in den Medien

Ich freue mich riesig über gleich zwei mediale Auftritte, die meine Arbeit, mein Buch und meinen persönlichen Lebensweg ins Rampenlicht stellen.

In der gedruckten Sommerausgabe des Magazins „The mothering journey“ erschien ein Ausschnitt meines Buches. Die Zeitschrift „The mothering journey“ ist neu auf dem Markt und widmet sich an die neue Generation von Müttern, die achtsam, bewusst und verbunden werden möchten. Es werden Themen wie die Geburt, das Wochenbett und Körperbewusstsein angesprochen. Und wie der Name schon verrät, wird das Muttersein als eine Reise beschrieben, die Reise sowohl zu sich selbst, als auch seelisch näher an unsere Kinder.

Man kann die gedruckte Ausgabe des Magazins auf der Homepage bestellen.

 

Der zweite Auftritt ist ein Podcast-Interview mit Irina Schott. Irina hat einen Podcast-Kanal eröffnet mit dem Titel „Die Selbstentdeckungsreise“. Ihr Anliegen ist die Entfaltung deiner seelischen Potenziale, dabei führt sie Interviews mit inspirierenden Menschen sowie teilt ihre eigenen Erkenntnisse mit.

Das Interview mit Irina war ein schönes Erlebnis. In meiner Arbeit bin ich normalerweise diejenige, die Fragen stellt. Nun könnte ich mich zurücklehnen und etwas von mir erzählen. Es ist eine Kunst, die richtigen Fragen zu stellen und den Gesprächspartner zum Öffnen zu bringen. Beides hat Irina mit Bravour gemeistert, so dass ich am Ende viel von meinem persönlichen Weg erzählt habe, von Geburten meiner Kinder und von so manchen Entbehrungen aus meiner Kindheit. Danke Irina für das inspirierende Gespräch!

Hier geht es zum Interview.

An diese Stelle verrate ich euch noch etwas. Der Titel der Podcast-Folge „Vom Kind, das ich war, zu der Mutter, die ich bin“ war ursprünglich mein Originaltitel zum Buchtitel. Der Verlag hat sich für einen anderen, euch bekannten Titel entschieden. Aber ein wenig trauere ich dem Alten noch hinterher. Wie findet ihr ihn?

Beide Anbieter verbindet die Sicht auf das Muttersein als eine Quelle wertvoller Erfahrungen, die uns bereichert. Ich wünsche Euch viel Spaß mit der Lektüre und mit dem Podcast.

Autorin Inga Erchova mit ihrem Buch

Auf Abstand mit sich selbst.

Die Lehren aus der Corona-Krise.

Historische Ereignisse der Corona-Pandemie sind noch nicht überwunden, gleichzeitig berappeln wir uns langsam aus der Schockstarre und kehren zur neuen „Normalität“ zurück. Und es ist an der Zeit zu rekapitulieren, was mit uns geschah? Was haben wir durchlebt? Was hat uns verändert und was bleibt zurück? Um daraus einen vorsichtigen Blick in die Zukunft zu wagen in die Welt nach Corona, oder doch mit ihr?

Wie bei einzelnen Menschen so auch kollektiv zeigen Symptomen immer dorthin, wo es wehtut, wo der Konflikt noch brennt und zwingt uns, den Umgang mit dem schmerzenden Thema zu verändern. Das Thema der aktuellen Krise ist die Nähe und Distanz. Corona hat uns auf Abstand zu einander gebracht, in die Isolation getrieben und doch gleichzeitig eine neue Nähe und Intimität geschaffen, wo früher keine war.

Eine Krise offenbart immer Seiten von uns, die im „Normalbetrieb“ verborgen bleiben. Auch Politiker, Ärzte, Virologen und andere „professionellen“ Akteuren des Geschehens handeln in der Krise aus Angst, Ambitionen, Minderwertigkeitsgefühlen, Streben nach Sicherheit und Anerkennung oder auch aus purer Sehnsucht nach Liebe. Wir sind alle nur Menschen. Es ist an der Zeit, einen Blick in den kollektiven Schatten zu werfen, denn nur so können wir die aktuelle Krise gemeinsam verarbeiten.

Ich habe die Kurve der Krisenentwicklung rekonstruiert. So in etwas habe ich sie erlebt.

Phase1. Der Schreck und das Hamstern.

Das Wort Lockdown kannten wir vorher höchsten aus Action Filmen, genau so unwirklich klang seien Ankündigung durch die Regierung. Wir konnten kaum glauben, dass so etwas je möglich war, dass das Leben da draußen komplett aufhören würde und dass wir einfach zuhause bleiben, auf unbestimmte Zeit. Wir haben versucht, die Verunsicherung mit Vorratskäufen zu dämpfen, und hofften leise, dass es nach ein Paar Wochen bestimmt überstanden sein wird – so zu Ostern vielleicht. Wir nahmen die Anordnung ernst, denn wir waren besorgt darüber, ob das neuartige Virus eine reale Gefahr für unsere Gesundheit darstellt. Abwarten und Tee trinken, hieß es, in eigener Küche mit dem Handy in der Hand.

Schon kurz vor dem Lockdown wurde es seltsam intim: Plötzlich hatten wir alle ein gemeinsames Thema, das wir mit x-beliebigen Fremden besprechen konnten, liefen mit großen Packungen Klopapier durch die Straßen und zeigten uns mit unsren intimen Bedürfnissen entblößt. Wer hat das größte Pack? Puh, zu viel Information!

Phase 2. Romantischer Lockdown. Der Ausstieg aus dem Hamsterrad des Alltags.

Nun wurde es still. Gespenstisch leere Städte und Straßen, wie wir sie noch nie gesehen hatten. Es war ein neues Erlebnis – gruselig und schön zugleich. Erst jetzt ist es uns aufgefallen, im welch einem Gedränge wir tagtäglich gelebt hatten. Nun konnten wir endlich innerlich durchatmen – keine Menschenmassen, keine Termine, kein Hamsterrad des Alltags, plötzlich Freizeit, plötzlich viel Zeit für alles, was bisher liegen geblieben war – Nähprojekte, Reparaturen, neue Hobbys, Basteln und Backen mit Kindern. Eine wohltuende Pause.

Romantische Gefühle kamen auf bei dem Anblick, wie die Fische in Venedigs Kanälen schwammen und wilde Tiere durch die Städte wandern. Sehen sie nach, was mit uns los ist? Die Natur atmete mit uns auf. Menschen sangen gemeinsam auf Balkonen als Zeichen der Solidarität, isoliert und doch sehr eng zusammen. Wir waren zwar alleine in unseren Wohnungen oder Häusern eingesperrt, doch gefühlt waren wir solidarisch mit der ganzen Welt. Noch nie war die Welt ein kleineres Dorf gewesen, noch nie haben wir uns als Menschheit – als etwas Ganzes – so verbunden gefühlt. Wir haben Fotos „Der Blick aus meinem Fenstern“ getauscht, für Nachbaren eingekauft, Balletttänzer oder Popikonen in ihren Pyjamas erlebt und ihre Küchen gesehen, so menschlich und verletzlich, wie wir alle sind. Zum Glück gibt es das Internet – der Lebensretter.

Das, was selbstverständlich war, wurde plötzlich unmöglich und umgekehrt, etwas, was wir uns nie vorstellen konnten, war plötzlich möglich, zum Beispiel das Homeschooling.

Eigene Kinder zu Hause zu unterrichten, nach eigenen Regeln und Weltbildern – ein Traum, der so manche Familien aus Deutschland auswandern ließ, musste plötzlich notgedrungen einen Blitzstart erleben. Für mich war es erleuchtend zu erleben, wie meine Kinder beim Lernen eigentlich sind. Im Alltag hatte ich keine Zeit dazu, jetzt schaute ich mir ihre Bücher genau an, lernte ihre Handschrift kennen, ihre Art zu lernen und zu denken. Wieder eine neue Nähe und Intimität war da. Doch meine Kinder flüchten vom Lernen regelmäßig ins Spielen, Tanzen oder Toben und ich ließ sie und genoss den Anblick, wenn drei Schwester mit erheblichem Altersunterschied süß zusammenspielten. In der Zeit der Isolation waren sie die besten und die einzigen Spielkameraden für einander, es schweißte sie zusammen, denn sie hatten nur sich selbst.

So harrten wir über Wochen in eigenen vier Wänden aus und können ihnen nicht entfliehen. So viel Zeit am Stück habe ich noch nie mit meinen Kindern verbracht und lernte sie neu kennen. Viele Bekannte erlebten diese Phase als Geschenk, besonders, wenn sie vom Arbeitgeber weiter versorgt wurden. „Das alte Leben war mir eh zu stressig und Kinder wollte eh nie zur Schule“, – war oft die Reaktion auf die notgedrungene Pause.

Phase 3. Der nervige Lockdown

Dann kippte die Situation, wie die Milch von jetzt auf gleich sauer wird. Plötzlich nervten die musizierenden Nachbaren auf dem Balkon, der Müll quellte aus den Tonnen, die hellhörige Wände ließen zu viel Intimes von den Nachbarn durch, verletzten unsere Grenzen und offenbarten wieder zu viel Nähe, die wir nicht mehr wollten. Auch meine drei Kinder, die nun permanent zuhause waren, nervten die kinderlosen Nachbarn, die ihre Ruhe haben wollten. Alle waren zu Hause und gingen sich gegenseitig auf den Keks.

Kinder zuhause, Arbeit zuhause, Freizeit zuhause, wir rücken uns gegenseitig auf die Pelle. „Wie halte ich meine Familie aus?“, – schreibt ein Kolumnist. Es entstand die neue Dichte und die neue Sehnsucht nach Distanz.

Wenn die Außenwelt aufhört zu sein, blüht die Innenwelt umso stärker auf. Wir träumten wieder mehr, grübelten mehr über den eigenen Weg, haben engeren Kontakt mit der Familie. Wir kochten praktisch im eigenen Saft und es wurde bald zu viel des Guten. Der Drang, wieder nach außen zu gehen, war offensichtlich und irgendwann durften wir wieder raus, doch mit Auflagen.

Phase 4. Die große Spaltung. Die Maskenpflicht, der Maulkorb und der Alluhut.

Wir durften wieder rausgehen aber auf Abstand bleiben. Städte waren wie von Spinnweben umhüllt in Plastikfolien, Trennwände, Spuckschutzfolien, Abstandhalter und anderen trennenden Vorrichtungen. Wie hinter einem Bettlaken konnte ich die Kassiererin hinter ihrem Plastikvorhang kaum erkennen und schon gar nicht akustisch verstehen, was sie da murmelt.

Die Schutzmaskenpflicht trat in Kraft und zeigte rasch ihre polarisierende symbolische Wirkung. Aus Vermummungsverbot wurde das Vermummungsgebot. Für einige war die Maske ein willkommenes Versteck, selbst draußen auf dem Fahrrad trugen sie diese ganz freiwillig und waren froh, endlich unerkannt bleiben zu dürfen.

Für andere war es allerdings eine Qual – Erstickungsgefühl, ein Maulkorb und die Beschneidung ihrer Freiheit.

Die Gesellschaft entzündete, ging in Flammen auf und spaltete sich in zwei Lager mit großer Kluft dazwischen in die Kritiker und die Konformisten. Uns sie gingen auf einander los, beschimpften sich und belächelten. Es brannten heiße Debatten auf. Alle Kritiker wurden von Konformisten automatisch für Verschwörer erklärt und damit für verrückt. So war es bequem, man brauchte auf ihre Argumente nicht einzugehen, weil es ja eh nur verrückte Spacken sind.

Wir bangten um die Demokratie. Ich erlebte, dass viele meiner Bekannten in Deckung gegangen sind und sich nicht trauten, sich öffentlich kritisch zu äußern. Diese Haltung machte mir Angst, ich hatte nie gedacht, dass in einem demokratischen Land wie Deutschland, die aus der Geschichte viel gelernt haben muss, die Angst frei zu sprechen, so stark sein könnte. Konformisten gingen auf Abstand mit den Kritikern, auch in meinem Freundeskreis.

Projektionen und Gegenprojektionen schaukelten sich hoch. Wer ist hier eigentlich verrückt? Systemkonformisten und Verschwörungstheoretiker sind sich aber in Wahrheit ähnlicher, als es ihnen lieb ist. Beide haben Unbehagen, fremdbestimmt zu sein. Die Verschwörer fragen sich: „Meinen die Bosse es gut mit uns?“ und antworten selber: „Nein! Und ich bin ihnen ausgeliefert.“ Konformisten schwören: „Wir dürfen die Bosse nicht hinterfragen, sonst verärgern wir noch die große Mutti. Sie meint es ja nur gut mit uns.“ Wenn man Partei für etwas ergreift, distanziert man sich von eigenen Gefühlen und schaut nur zum großen Bestimmer auf. Es ist aber der innere Kompass, der uns aus dem Wirrwarr der gegenseitigen Anschuldigungen leitet. Was fühlt sich stimmtig an? Wir dürfen fühlen, was wir fühlen. Und natürlich ist nicht jeder Kritiker automatisch ein Verschwörer.

Bill Gates ist aufgetaucht für einige als Hassfigur (Kill Bill!) für andere als Menschenfreund und Weltverbesserer. In einem Video-Interview erzählt er über seine große Leidenschaft für Impfen und kommt dabei so in Rage, dass er auf sein eigenes Unterarm einschlägt um zu zeigen wie er „den kleinen Kids die Gen manipulierte Organismen rein spritz“ und ruft dabei „Rein in die Vene, bäm!“ Meine persönliche Diagnose lautet hier – Sadist.

Phase 4: Erste Welle, zweite Welle, die Dauerwelle.

Auch diese Spaltung scheint abgekühlt zu sein. Bill Gates ist wieder von der Oberfläche verschwunden und wartet wahrscheinlich Hände reibend im Untergrund auf seinen Heiligen Gral – den Impfstoff (My precious!), den er gleich der ganzen Welt verpassen will. Warum kleinlich sein? Am nötigen Kleingeld soll es ja nicht scheitern.

Die Corona-Zeit hört gefühlt nicht mehr auf und wurde längst zum Dauerzustand, mit dem wir uns mehr schlecht als recht arrangieren. Der große Brand scheint zwar abgeflacht zu sein, aber es flammen immer wieder kleinere Feuerinseln auf in einzelnen Gebieten oder Branchen wie Schlachthöfen, Kirchen oder Gastronomie. Das Virus lodert unterschwellig, und mutiert derweilen zu neuen Formen und Arten.

Wird es je aufhören? Werden wir bleibende Schäden davon tragen? Manche Lebensbereiche sind nach wie vor stillgelegt. Da wo früher dichter Menschenkontakt war – in Bars, Diskos, Schwimmbäder, Kontaktsportarten, Paartanz – herrscht heute immer noch gespenstige Stille. Vor allem die Kultur leidet am meisten – unsere kollektive Seele. Wird es je wieder möglich sein, Tango mit einem Fremden in enger Umarmung zu tanzen?

Fazit.

Jede Krankheit offenbart den schwachen Punkt, da, wo es wehtut. Corona zeigte uns, dass wir ein Problem haben mit der Nähe. Echte, fühlende, menschliche Nähe, wenn zwei Menschen zusammen schwingen, wenn ihre Seelen unisono singen, kennen wir kaum. Wir leben zusammen alleine, abgelenkt von Todo-Listen und bleiben seelisch auf Abstand. Man merkt die Einsamkeit nicht, wenn so viel Trubel rundherum herrscht. Die Einsamkeit ist ein Gefühl, das man auch umgeben von vielen Menschen haben kann, das Gefühl, dass niemand weiß, wie es mir wirklich geht.

Nicht die Viren machen uns krank, sondern das Leben das wir führen. Es macht uns krank, dass wir nicht im Kontakt sind mit uns selbst, mit unserem wahren Ich. Wir haben Angst zu fühlen oder haben es ganz verlernt.

Durch Corona sind wir alle enger zusammengerückt. Wir dachten, wir konnten den Menschen aus dem Weg gehen, mit denen wir nichts zu tun haben wollten, eine Insel schaffen, uns in unserer kleinen Welt verkriechen? Doch plötzlich saßen wir alle in einem Boot – die Reichen mit den Armen, die Eingeborenen und die Zugereisten, die Promis und die Normalos, die Verschwörer und die Konformisten. Und dieses Boot heißt die Erde und wir alle sind die Menschheit.

Symptome machen uns ehrlich, das was sie bewirken, wollten wir unbewusst. Wir wollten es anscheinend so sehr, schafften es aber bisher nicht, dass wir uns selbst und einander ein wenig näher kommen.

Sebastiao Moreira/EPA-EFE/Shutterstock

Das neue Feindbild „Die Irren mit dem Aluhut“ und was wir von der kindlichen Ohnmacht darauf projizieren.

Wir erleben gerade eine Spaltung der Gesellschaft. Es bilden sich zwei Fronten: Die einen protestieren auf der Straße gegen die Einschränkungen, die anderen sind über die Proteste empört. Hervorgerufen wurde diese Spaltung durch das Einführen von Mundschutzpflicht. Scheinbar harmlose Maßnahme zeigte unerwartet eine starke symbolische Wirkungskraft.

Durch die Maske wird unser halbes Gesicht verdeckt. Aus Vermummungsverbot ist nun ein Vermummungsgebot geworden. Das Gesicht zeigen, das heißt, sich bekennen und Stellung beziehen, wird dadurch unmöglich. Der Mund – unser Kommunikationsorgan wird verdeckt. Wir empfinden es als Begrenzung der Aussprache und Meinungsfreiheit. Auch das Atmen wird erschwert, wir können nicht durchatmen und ersticken innerlich. Das alles führte dazu, dass eine Aufstandsbewegung entstanden ist und die Mundschutzmaske zu „Maulkorb“ deklariert hat. Viele wehren sich dagegen und ziehen den Ärger der „Gehorsamen“ auf sich. Es schwingt aber mehr als nur Unverständnis mit, der Ärger geht fast schon in Verachtung über? “Die Irren mit dem Aluhut” werden zu neuem Feinbild, belächelt und angefeindet. Warum eigentlich?

Für die meisten von uns ist fremdbestimmt zu sein der Normalzustand, seit dem Babyalter: Wir wurden nicht an die Brust genommen, wann wir es gebraucht hatten, sondern wann die Uhr es angeordnet hat; unsere Mama hat uns nicht auf den Arm genommen, wenn wir nach ihr gerufen haben, sondern uns alleine im leeren Zimmer weinen gelassen. So sind wir mit dem Gefühl groß geworden, unsere innere Stimme ist wirkungslos, unser Leiden findet kein Gehör, wir sind allein in dieser Welt und müssen uns fügen, dieser äußeren Kraft, die mächtiger ist als wir, die über uns bestimmt, auf Leben und Tod.

Nun sind wir groß geworden und sind nicht mehr der Mutter ausgeliefert, dennoch tragen wir die gelernte Wehrlosigkeit in uns, dieses alte Gefühl, dass wir nicht zählen, dass wir aushalten und uns fügen müssen. Heute gibt uns der Intellekt genügen „gute Gründe“, warum das so richtig sei. Es beruhigt uns ein wenig zu glauben, dass es doch bestimmt für etwas gut ist: für die Gesellschaft, für die Gesundheit, für den Kampf gegen die gefährliche Krankheit. Unsere innere Stimme ist jedoch nicht ganz in uns erloschen, sie ist wie eine winzige Flamme noch am Leben, tief in uns begraben. Aber sie darf nicht groß werden, nicht entflammen, sonst kommt die große Mutter und bestraft uns. Wir halten lieber aus, andere tun es doch auch. Manche haben es noch viel schlimmer als wir, also halten wir durch.

Aber wenn Menschen kommen, die ihre innere Stimme groß nach außen kehren und für ihre Selbstbestimmung kämpfen, dann wirkt es auf uns wie ein Verrat. Wie können sie nur? Was fällt ihnen ein? Wir müssen doch zusammenhalten, alle gleich verzichten, gleich leiden, gleich zurückstecken, an einem Strang ziehen. Aber wohin? Warum? Wozu? Das fragen wir uns nicht, denn das würde unsere kleine Flamme groß aufflammen lassen.

Wir dürfen nicht zweifeln. Es wird getan, was von oben angeordnet wird, wie die Mama damals. In unserer infantilen Hilflosigkeit hatten wir damals keine Chance, unsere Wünsche erfüllt zu bekommen. Nein, das galt als Verwöhnen und wurde verpönt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Selbstbestimmung für uns heute als purer Luxus erscheint, ein unerlaubtes Privileg. Hält man sich denn für etwas Besseres? Es bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als Steine nach ihnen zu werden, sie zu beschimpfen oder zu belächeln.

Es gibt ein verbreitetes Phänomen während der Psychotherapie: Wenn ein Klient sich ändert und seine alten destruktiven Verhaltensmuster ablegt, leistet seine Umgebung – die Familie und die Angehörigen – gewaltigen Widerstand, als würden sie den Klienten in seiner alten Lebensweise mit aller Kraft zurückhalten wollen. Sie erpressen und beschimpfen, drohen mit Liebesentzug oder mit Verbannung aus der Familie, sie entziehen ihm finanzielle Unterstützung bis zum Streichen aus dem Kreis der Erben. Warum ist es so? Müssten sie sich nicht für ihren genesenden Familienmitglied freuen?

Es liegt daran, dass in einer Familie, in der toxische Beziehungen herrschen, Mitglieder nicht frei leben, sondern co-abhängig. Sie leisten bestimmte „Dienste“ für einander und sind in einem Familiendrama mit festem Drehbuch und Rollenaufteilung gebunden, wie z. B. der Bösewicht und das Opfer, der Tatkräftige oder der Schwache. Das Opfer kann nur seine Opferrolle spielen, wenn es einen Bösewicht gibt. Es braucht ihn, sonst kann es nicht Opfer sein.

Wenn sich ein Familienmitglied diese toxischen Beziehungsmuster bewusst wird, sie nicht länger erledigen will, und sich weigert nach dem gewohnten Drehbuch zu leben, werden ihm Steine in den Weg gelegt. Wenn ein „Bösewicht“ nicht länger „böse“ sein möchte, entzieht er dem Opfer seine Lebensgrundlage und die Vorteile, die diese für das Opferdasein mit sich bringen, wie z. B. sich vor jeglicher Verantwortung zurückzuziehen.

Wenn jemand seinen eigenen Weg gehen will, wird er angefeindet, ihm wird Egoismus vorgeworfen. Er lässt sich nicht länger benutzen. Er gibt kein Futter mehr für die Rollen der anderen und stellt sie so vor die Aufgabe, ihre eigenen Rollen ebenfalls zu überdenken. Er macht ihnen bewusst, dass sie abhängig sind. Wenn er aber ein Gespräch und Aussprache sucht und seinen Angehörigen über die toxischen Beziehungsmuster berichtet und sie bittet, diese zu verlassen, findet er kein Gehör. Er wird nicht ernst genommen, wie schon immer seit der Kindheit. Alles geschah doch nur zu seinem Besten aus Liebe, das müsse er einsehen. Alles ist nur Hirngespinst. Dann wird er zu dem „Irren mit dem Aluhut“ der Familie ernannt.

Es ist leicht, einen wehrlosen und gehorsamen Familienmitglied oder Bürger zu erschaffen. Man muss ihn nur nach der Geburt vom Körper seiner Mutter trennen. Es fügt dem Baby so ein unerträgliches Leiden zu und verletzt es so tief, dass es nur mit dem Einfrieren der Gefühle möglich wird, es zu überstehen. So wachsen wir heran, nichts fühlend und mit verstummter inneren Stimme. Wir orientieren uns nach außen – nach Vorschriften und Vorgaben, Anordnungen und Regeln, mit dem Glauben, wir können eh nichts dagegen ausrichten. Wer diese aber infrage stellt, ist ein Verräter. Zur Mehrheit zu gehören gibt uns die ersehnte Sicherheit.

Wenn ich nach einem Ausweg suche, dann sehe ich mir meine Kinder an und weiß, dass es ihnen so nicht passieren wird. Sie leben durch und durch im Einklang mit ihrer inneren Stimme, auch wenn sie bestimmte Regeln befolgen müssen. Das ist kein Widerspruch. Es herrscht keine Anarchie, sondern das bewusste Zusammenleben, bei dem das Glück des einen nicht auf dem Unglück des anderen basiert. Jeder hat die Möglichkeit, sich zu entfalten und gleichzeitig ein Teil der Gemeinschaft zu sein. Wenn ihre Wünsche gehört werden, lernen sie, Wünsche Anderer ebenfalls zu hören und zu respektieren.

Wenn ich mit Frauen arbeite, die ihre Kinder anders großziehen wollen, als wie sie selbst wurden, dann weiß ich, dass ich damit nicht alleine bin. Vielleicht dauert es noch, bis die Kinder von heute groß werden, spätestens dann wird die Welt eine andere sein. Bis dahin bleibt uns nur übrig, auf unsere innere Stimme zu hören, ohne Angst und Zweifel, denn diese innere Stimme ist das Einzige, was uns wahrhaftig immun macht, gegen alle Parolen, von welcher Seite auch immer sie kommen mögen.

Woman protesting REUTERS/Christian Mang

Rezension Netflix-Serie „Freud“

(Regisseur Marvin Kren. Autorin der Rezension Inga Erchova)

Dieser Netflix-Vorschau hat mich sofort gefesselt: Freud! – eine Ikone, der Vater der Psychoanalyse, für mich als Psychotherapeutin mein geistiger Vater. Kein Wissenschaftler hat für so viel Aufsehen gesorgt, Spaltung der Geister produziert, wurde bewundert und belächelt, gefeiert und geschmäht, kontrovers diskutiert oder durch den Dreck gezogen wie er. Seine Entdeckung des Unbewussten schätze ich nicht keiner ein als die Entdeckung, dass die Erde rund ist: Etwas zu entdecken, was man nicht direkt sehen oder ertasten kann, was man nur in seiner Vorstellungskraft erahnen kann, so schafft man einen Sprung im Bewusstsein.

Meine Erwartung an die Serie war daher, dass sie die Denkrevolution Freuds eindrucksvoll in Szene setzt und die Figur des Pioniers wie ein Ölgemälde ausmalt. Aber was war Freuds Verdienst eigentlich genau?

Revolution, die Keiner wahrhaben will.

Manche Entdeckungen feiert die Menschheit und nutzt sofort für sich, und durch andere fühlt sie sich aus der Bahn geworfen und bedroht. Nicht verwunderlich, dass die Letzten auf mächtigen Widerstand stoßen.

Dass die Erde nicht der Nabel der Welt war, sondern nur eins von vielen Satelliten der Sonne, war eine Kränkung für die Menschheit, die Kränkung für das Ego und ein Riss durch das Selbstbildnis als die Krönung der Schöpfung. 

Die Entdeckung des Unbewussten durch Freud war eine ähnliche Kränkung für die Menschheit und erneuter Angriff auf ihren Anspruch, der Nabel der Welt zu sein. Auch hier mussten wir uns die Schwäche eingestehen, dass das Gehirn nicht alles erklärt, dass wir nicht alles über uns wissen und dass wir nicht einmal die Herren im eigenen Zuhause sind. Auch das schmerzt und stößt auf massiven Widerstand. Doch er hielt Freud nicht auf.

Die Aufarbeitung in der Serie.

Zum Auftakt der Serie versetzt Freud mit seiner rebellischen Darstellung des Unbewussten die Wissenschaftswelt in Aufruhr: „Ich bin ein Haus, darin ist dunkel. Mein Bewusstsein ist eine schwache Kerze, die im Wind flackert, mal dahin, mal dorthin. Der Rest bleibt im Dunklen. Aber sie sind da: die Treppen, die Gänge, dunkle Zimmer, Geister, die darin wohnen. All das ist immer da und es lebt, es wirkt, es macht uns Angst.“

Damals suchte man nach Ursachen für Leiden jeglicher Art im Körper und Organen, und behandelte nur diese. Jenseits des Fassbaren zu schauen, war sprichwörtlich unfassbar. „So einen Schwachsinn will ich mir nicht länger anhören“, – klang aus den Reihen, – „Meint er das ernst?“ Vielleicht gerade diese Verleugnung des Seelischen jenseits der Materie hat zu der Zeit den fruchtbaren Boden bereitet für den Okkultismus und die dunkle Magie, verkörpert durch das ungarische Grafenpaar Sapare und ihre Ziehtochter Fleur. Nur Freud konnte einen Zugang zu ihnen finden und sie ihrer dunklen Macht entziehen. Irgendwo sprachen sie die gleiche Sprache.

Die Serie Freud ist keine Biografie und auch keine aufklärende Doku. Die Serie ist ein Geflecht aus Menschenschicksalen, Lebenswegen, die sich kreuzen und wieder auseinandergehen, von Menschen, die sich im dunklen Haus ihres Bewusstseins verirren und einen Ausweg suchen. Freud ist oft nur als stiller Beobachter im Hintergrund dabei, dessen Forschungsdrang ihn vor keiner gefährlichen Situation zurückschrecken lässt. 

Das Haus als Metapher des Bewusstseins zieht wie ein roter Faden durch die Serie durch. Wir sehen viele Häuser, spärlich beleuchtet, mit Gängen und Treppen, von Geistern bewohnte Räume, wo man seinen eigenen Abgründen begegnet und gegen sich selbst kämpft. Dazu bietet das alte Wien die perfekte Kulisse. 

Der Fokus der Serie liegt dennoch eindeutig auf der Unterhaltung und es werden dazu alle Register der Spannungsaufbau gezogen – Zweikämpfe, spritzendes Blut, Leichen und Labyrinthe. Die volle Klaviatur der Gruseleffekte wird angespielt inklusive des Ohrwurms einer Klaviermelodie, mit der im Kopf ich am nächsten Morgen aufwachte. (Diese Ohrwurm-Melodie hörte ich übrigens eines Abends plötzlich durch die Wand von nebenan, als meine Nachbarn die Serie ebenfalls geschaut hatten. Aber wie schaurig es doch war, denn dem Freud passierte das Gleiche – die Melodie kam aus dem Nebenraum zu ihm.)

Die Figur Freuds und der Hauptdarsteller.

Robert Finster als S.Freud

Der Hauptdarsteller Robert Finster (der Nachname!) zeichnet ein sympathisches und glaubwürdiges Bild des jungen Freud – sensibel, getrieben und doch integer, tiefgründig mit fesselndem Blick. Sein Holzfäller-Bart wirkt fast schon zeitgemäß und für mich persönlich ein Hingucker ;-P Die vielen Gesichter Freuds werden mit unterschiedlichen Namen angesprochen: Für die Mutter ist er der große Sigismund, für Freunde und die Verlobte – der Siggi, der Vater und der Kumpel nennen ihn salopp Schlomo (fast ein Akronym für Schalom).

Obwohl man ihn mit Doktor Freud anspricht und so manche körperlichen Wunden behandeln lässt, so ist er kein Arzt, der Rezepte verschreibt. Mit Freud ist eine neue Art von Doktor geboren: Als Psychoanalytiker ist er ein Detektiv, Profiler, Forscher, furchtloser Kartograf des unbekannten Terrains. Er stemmt sich gegen gewaltigen Widerstand seitens der Kollegen, der Klinikleitung bis zu den kaiserlichen Generalen und dem Kaiser selbst. Nur einer steht bis zum Schluss zu ihm und bleibt eine Mischung aus Freund und Patient – der Polizeiinspektor Kiss. Er konnte die Freuds Denkweise am ehesten noch verstehen und sich zunutze machen. Ihr Handwerk ist ja auch ähnlich.

Freud und Kiss

Freud wird noch ganz am Anfang seiner Karriere gezeigt und oft als Scharlatan abgetan. Doch „die Welt wird eine andere sein“, so prophezeit ihm seine Verlobte. „Deine Zeit wird kommen, Freud, so oder so“, sagt zu ihm der Inspektor Kiss, als Freud sein Buchmanuskript auf die Anordnung des Kaisers Zähne knirschend verbrennt. Es gab also Menschen, die an ihn glaubten.

Und, können wir aus heutiger Zeit bestätigen, dass es so gekommen ist, dass sich Freuds Denkweise in den Massen durchgesetzt hat? Nein, wohl eher nicht. Nur eine kleine Gruppe der Menschen lebt im Alltag mit diesem Weltbild. Das Establishment inklusive der Regierung, der Wirtschaft und der Medien geht immer vom „rationalen“ Menschenbild aus – der Mensch, der alles über sich weißt und mit dem freien Willen sein Leben steuern kann. Wir glauben immer noch, dass uns die messbare Materie die einzig glaubwürdige Sicherheit vermittelt, also mit anderen Worten, dass die Erde flach ist.

Wichtige Message zum schicksalhaften Zeitpunkt.

Die Serie Freud ist eine Einladung, uns die verdrängte Entdeckung erneut anzuschauen und uns die Macht des Unbewussten in uns zu vergegenwärtigen. Das Timing dazu konnte nicht besser gewesen sein – als die ganze Welt angesichts eines Symptoms den Atem anhält. „Pass auf, was du dir wünscht, es könnte in Erfüllung gehen“, – pflegen wir uns zu sagen. Hand aufs Herz, haben wir uns nicht schon immer mal eine Pause vom Hamsterrad gewünscht? Na, bitte schön!

Es ist überfällig, dass wir alles, was mit uns geschieht, nicht als Zufall betrachten, sondern als etwas, was zu uns gehört, ob wir es verstehen oder noch nicht. Symptome sind eben nur das, was sie sind – Symptome und nicht das Problem selbst. Sie sind ein Hinweis auf etwas, was wir noch nicht sehen, nicht realisieren, nicht verstehen, eine Einladung zum Forschen und Begreifen. 

„Die Macht des Unbewussten bedeutet, dass wenn man sich etwas unbewusst wünscht, bekommt man es im Guten wie im Schlechten. Oder anders ausgedrückt: Was aus einem geworden ist, in Wirklichkeit sein tiefster Wunsch war.“

Freud lehrt uns zu akzeptieren, dass die Welt hinter dem Horizont weitergeht, auch wenn wir es nicht sehen können. Auch die Welt unserer eigenen Seele ist größer, dunkler und unbekannter, als wir nur erahnen mögen. Er lehrt uns zu akzeptieren, dass wir nicht alles messen oder anfassen können, dass es Kräfte gibt, die wir nicht mit einer Formel berechnen können, die aber deswegen nicht weniger real sind und nicht weniger mächtig.

Wir alle sind getrieben und zerrissen, kämpfen gegen uns selbst und stapfen im Dunklen. Doch wenn wir unsere Dämonen nicht länger bekämpfen, sondern diese als Teil von uns annehmen – als Energiequelle, als Kraft und Feuer – dann werden wir erst zu dem, was wir gemeint waren zu werden.

Erst dann ist die Therapie abgeschlossen. „Der Nächste, bitte.“

Embodiment in aller Munde

Je länger ich als Psychotherapeutin arbeite, desto mehr verspüre ich das Bedürfnis, nicht nur die Seele, sondern auch den ganzen Körper der Klienten in den Prozess der Heilung mit einzubeziehen. Denn das Eine existiert nicht ohne das Andere – die Seele und der Körper sind nicht getrennt, sondern nur zwei Seiten eines Ganzen und sind unzertrennlich. Zum Teil gelingt mir das Einbeziehen des Körpers während der Arbeit mit dem „Inneren Kind“. Hier erinnern wir uns an Erfahrungen aus der vorverbalen Zeit. Dank des Zellengedächtnisses unseres Körpers können wir uns zwar nicht an die konkreten Ereignisse erinnern, sehr wohl jedoch an das überdauernde Gefühl in der Zeit, zum Beispiel das Gefühl gebunden oder verlassen zu sein, in Sicherheit zu sein oder permanent bedroht.

Der Körper kann sprechen und tut es eigentlich die ganze Zeit, wir hören bloß wenig zu. Nur wenn es wehtut, bemerken wir unseren Körper und gehen zum Arzt, aber auch er hört wenig darauf, was der Körper uns eigentlich sagen will, sondern verschreibt etwas, was den Körper wieder schnell zum Schweigen bringt – die Symptombehandlung eben.

Die gute Nachricht ist jedoch, dass sich die Sicht der Dinge zunehmend ändert. Das globale Bewusstsein steigt und wir lernen, auf die Signale unseres Körpers zu achten und diese zu lesen. Das gute Beispiel für das steigende Interesse zum Körper unter den Fachmenschen ist die aktuell stattfindende, die erste im russischen Sprachraum Online-Konferenz, die dem Embodiment – also der Körperlichkeit gewidmet ist. Ich fühle mich gesegnet und bin sehr glücklich, dass ich durch meinen mehrsprachigen Hintergrund an dieser Konferenz teilnehmen kann und vom großen Schatz der einsichtsreichen, intelligenten und erfahrenen Fachleute aus unterschiedlichsten Bereichen, die mit dem menschlichen Körper in Kontakt treten, schöpfen kann. Einige Speaker sind aus dem Ausland und sprechen Englisch. Es lohnt sich also der Blick in das Programm, das noch einige Zeit nach dem Schließen der Konferenz in Aufzeichnung verfügbar sein wird.

Und natürlich werde ich schon hoffentlich bald mein professionelles Angebot auf den Körper ausweiten. Angedacht sind z. B. die Tanztherapie (auch als Eltern-Kind-Tanztherapie) und Embodiment-Yoga. Ich werde berichten.