Heute zum Geburtstag von Astrid Lindgren möchte ich nicht über Pippi oder Annika schreiben, sondern über Frau Prysselius, von Pippi liebevoll Prusseliese genannt – eine Figur, die wir in den Geschichten von Pippi Langstumpf belächeln und nicht wirklich ernst nehmen, dabei hält sie uns den Spiegel vor und wir belächeln unser eigenes Spiegelbild. Sie ist die Karikatur und Satire auf uns Erwachsene und jeder ist ein bisschen wie sie. Warum das so ist?
Frau Prysselius ist eine zwiespältige Gestalt: auf einer Seite tut sie ehrenvolle Tätigkeit – sie leitet ein Kinderheim und kümmert sich um die Waisenkinder – ein perfektes Aushängeschild. Auf der anderen Seite spüren wir etwas Falsches in ihr. Und ihr Satz: „Sie wissen doch, wie kinderlieb ich bin.“ bringt uns zum Schmunzeln. Sie will ja nur das Beste für Kinder. Stimmt es wirklich? Wer sagt das?
Hier ist eine Szene auf dem Weihnachtsmarkt. Sie jagt Pippi und holt sich Hilfe von den Polizisten mit den Worten:
– Ich möchte, dass sie wenigstens über die Feiertage im Kinderheim ist, sonst habe ich nämlich selbst keine richtige Weihnachtsfreude.
– Sie bekommen Ihre Weihnachtsfreude, Fräulein Prysselius, – antworten die Polizisten.
Pipi bringt Prusselieses Selbstbild als selbstlose Helferin der Kinder ins Schwanken. Man spürt, dass sie ihr Selbstbild um jeden Preis aufrechterhalten will, wie eine Maske, die in Pippis Anwesenheit durchsichtig wird. Die Waisenkinder sind für sie nur ein Instrument, mit dem sie ihr Selbstbild bewahrt. Pippi wehrt sich dagegen, Prusselieses Spielball zu sein und ihrer vorgetäuschten Gestalt Futter zu geben. Und das verärgert Prusseliese: Wie kann so jemand auf freiem Fuß leben? Er gehört doch eingesperrt. Wir alle bearbeiten mit unseren besten Bestrebungen eigentlich nur etwas in uns selbst, auch wenn wir es scheinbar für anderen tun. Wir merken es daran, dass unsere netten Gesten nur „gut gemeint“ bleiben, den anderen aber nicht berühren.
In Prusseliese spüren wir die unendliche Distanz, die Kluft, den Abgrund zwischen der Welt der Erwachsenen und dem Empfinden der Kinder. Als ich klein war, habe ich oft gespürt, dass Erwachsene längst vergessen haben, dass sie selbst einmal Kinder waren. Sie lebten auf einem anderen Planeten, waren mir fremd, hatten kein Einfühlungsvermögen, konnten sich nicht in mich hineinversetzen. Sie waren nur steife, gefühlslose Klötze mit rigiden Vorstellungen über gut oder schlecht. Wir wurden nur aufgefordert, ihren Erwartungen zu entsprechen. Ich habe mir damals fest vorgenommen, mein Empfinden als Kind bis ins Erwachsenenalter nicht zu vergessen, oder besser gesagt nicht zu verlieren.
Wir Erwachsenen wollen scheinbar das Kinderwohl. Doch unter dem Mantel der edlen Absichten verstecken wir etwas anderes – wir versuchen Löcher in unserer Seele zu flicken und tun es in Wirklichkeit für uns selbst, nicht für Kinder. Denn wir schauen nicht in die Kinderseelen hinein, sondern fordern von ihnen, dass diese sich anpassen. Ja, Kinder sind unreif. Ja, sie begeben sich oft unwissend in Schwierigkeiten oder Gefahren. Ja, wir müssen Verantwortung für sie bei manchen Entscheidungen übernehmen. Aber zu oft dient es nur der Rechtfertigung unserer geistigen Abwesenheit in ihrem Leben. Wir sehen Kinder nicht, spüren sie nicht, verstehen sie nicht und drücken ihnen nur unsere Ansichten vom Kinderwohl auf.
Befreien wir uns von den Konventionen und schauen in die realen Kinderseelen hinein. Das können wir allerdings nur, wenn wir uns als Kinder nicht vergessen haben und uns an das Empfinden unserer Kinderseele erinnern. Danke, liebe Astrid, dass du mich in den Momenten, wenn ich mich als Kind vergesse und in meiner erwachsenen Blindheit um mich wüte, wieder daran erinnerst und in die alten Zeiten zurückholst. Das erklärt es, warum mir beim Lesen deiner Bücher so manche Träne entwischt.